Botschaft zur Gewährleistung der geänderten Verfassungen der Kantone Bern, Waadt, Genf und Jura
Botschaft zur Gewährleistung der geänderten Verfassungen der Kantone Bern, Waadt, Genf und Jura
vom 22. Mai 2024
Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren
Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf ¹ zu einem einfachen Bundesbeschluss über die Gewährleistung der geänderten Verfassungen der Kantone Bern, Waadt, Genf und Jura.
Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
22. Mai 2024 | Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Viola Amherd Der Bundeskanzler: Viktor Rossi |
Übersicht
Der Bundesversammlung wird beantragt, mit einfachem Bundesbeschluss Änderungen der Verfassungen der Kantone Bern, Waadt und Jura sowie der Verfassung des Kantons Genf betreffend das Recht auf digitale Integrität und das Recht auf Ernährung zu gewährleisten. Demgegenüber kann die Änderung der Verfassung des Kantons Genf betreffend die Elternschaftsversicherung nur teilweise gewährleistet werden.
Nach Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung gibt sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung. Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt. Nach Absatz 2 des gleichen Artikels bedürfen die Kantonsverfassungen der Gewährleistung des Bundes. Steht eine kantonale Verfassungsbestimmung im Einklang mit dem Bundesrecht, so ist die Gewährleistung zu erteilen; erfüllt sie diese Voraussetzung nicht, so ist die Gewährleistung zu verweigern.
Die vorliegenden Verfassungsänderungen haben zum Gegenstand:
im Kanton Bern:
-
die Schuldenbremsen;
im Kanton Waadt:
-
den Klimaschutz;
im Kanton Genf:
-
das Recht auf digitale Integrität;
-
das Recht auf Ernährung;
-
die Elternschaftsversicherung;
im Kanton Jura:
-
die Amtsenthebung von kantonalen und kommunalen Behördenmitgliedern.
Mit Ausnahme der Änderung der Verfassung des Kantons Genf betreffend die Elternschaftsversicherung sind die vorstehenden Verfassungsänderungen bundesrechtskonform, womit ihnen die Gewährleistung zu erteilen ist. Demgegenüber kann die Änderung der Verfassung des Kantons Genf betreffend die Elternschaftsversicherung nur teilweise gewährleistet werden: Das Bundesgesetz vom 25. September 1952 über den Erwerbsersatz (EOG) sieht vor, dass die Kantone kantonale Beiträge nach dem Vorbild der Sozialversicherungen des Bundes, d. h. in Form paritätischer Beiträge der Arbeitgeber und der Arbeitnehmenden, nur erheben können, um eine im Vergleich zum Bund höhere oder länger dauernde kantonale Mutterschafts- oder Adoptionsentschädigung auszurichten. In den übrigen Fällen sieht das EOG keine solche Kompetenz der Kantone vor. Dementsprechend ist die Änderung der Verfassung des Kantons Genf betreffend die Elternschaftsversicherung bundesrechtskonform und damit zu gewährleisten, soweit sie in Ergänzung zur Bundesgesetzgebung eine durch paritätische Beiträge der Arbeitgeber und der Arbeitnehmenden finanzierte Versicherung von mindestens sechszehn Wochen bei Mutterschaft (vgl. Art. 16h EOG) und, in Analogie dazu, bei Adoption (vgl. Art. 16x EOG) vorsieht. Im Übrigen ist sie nicht bundesrechtskonform und kann nicht gewährleistet werden. Mit Ausnahme der Aufnahme zur dauerhaften Unterbringung könnte der nicht gewährleistete Teil der Änderung dennoch gewährleistet werden, wenn im Bereich der Entschädigung des andern Elternteils eine zu Artikel 16h EOG analoge Bestimmung in Kraft tritt. Nachdem der Bundesrat einen Vorentwurf mit einer solchen Kompetenz der Kantone am 22. Dezember 2023 in die Vernehmlassung gegeben hat, wird er in einer zukünftigen Gewährleistungsbotschaft, falls das EOG im Sinne des Vorentwurfs geändert wird, die Gewährleistung der kantonalen Versicherung für den andern Elternteil beantragen.
Botschaft
¹ BBl 2024 1246
1 Die einzelnen Revisionen
1.1 Verfassung des Kantons Bern
1.1.1 Volksabstimmung vom 18. Juni 2023
Die Stimmberechtigten des Kantons Bern haben in der Volksabstimmung vom 18. Juni 2023 den Änderungen der Artikel 101 a und 101 b der Verfassung des Kantons Bern vom 6. Juni 1993 ² (KV-BE) betreffend die Schuldenbremsen mit 211 824 Ja gegen 96 535 Nein zugestimmt. Mit Schreiben vom 18. Oktober 2023 ersuchen der Regierungspräsident und der Staatsschreiber im Namen des Regierungsrates um die eidgenössische Gewährleistung.
² SR 131.212
1.1.2 Schuldenbremsen
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Art. 101 a Schuldenbremse für die laufende Rechnung [Marginalie] ¹ Der Voranschlag darf keinen Aufwandüberschuss ausweisen. ² Ein Aufwandüberschuss des Geschäftsberichts wird dem Voranschlag des übernächsten Jahres belastet, soweit er nicht durch Eigenkapital gedeckt ist. ³ Der Grosse Rat kann bei der Verabschiedung des Voranschlags von Absatz 1 abweichen, wenn mindestens drei Fünftel seiner Mitglieder es beschliessen. Bei der Genehmigung des Geschäftsberichts ist Absatz 2 im Umfang des im Voranschlag beschlossenen Aufwandüberschusses nicht anwendbar. Der Fehlbetrag ist innert vier Jahren abzutragen. ⁴ Der Grosse Rat kann bei der Genehmigung des Geschäftsberichts von Absatz 2 in einem festzulegenden Umfang abweichen, wenn mindestens drei Fünftel seiner Mitglieder es beschliessen. Ein Fehlbetrag ist innert vier Jahren abzutragen. ⁵ Buchgewinne und Abschreibungen auf Anlagen des Finanzvermögens werden für die Anwendung der Absätze 1 und 2 nicht berücksichtigt. | Art. 101a Schuldenbremse für die Erfolgsrechnung [Marginalie] ¹ Das Budget darf nur einen Aufwandüberschuss aufweisen, wenn dieser durch einen Bilanzüberschuss gedeckt ist. ² Ein Aufwandüberschuss im Geschäftsbericht ist innert zwei Jahren abzutragen, wenn er nicht durch einen Bilanzüberschuss gedeckt ist. ³ Der Grosse Rat kann bei der Verabschiedung des Budgets mit Zustimmung von drei Fünfteln seiner Mitglieder von Absatz 1 abweichen. Bei der Genehmigung des Geschäftsberichts ist Absatz 2 im Umfang des im Budget beschlossenen Aufwandüberschusses nicht anwendbar. Ein Fehlbetrag ist innert fünf Jahren abzutragen. ⁴ Der Grosse Rat kann bei der Genehmigung des Geschäftsberichts mit Zustimmung von drei Fünfteln seiner Mitglieder in einem festzulegenden Umfang von Absatz 2 abweichen. Ein Fehlbetrag ist innert fünf Jahren abzutragen. ⁵ Buchgewinne und Wertberichtigungen auf Anlagen des Finanzvermögens werden für die Anwendung der Absätze 1 und 2 nicht berücksichtigt. | |
Art. 101 b Schuldenbremse für die Investitionsrechnung [Marginalie] ² Ein Selbstfinanzierungsrad der Nettoinvestitionen unter 100 Prozent im Voranschlag ist im Aufgaben- und Finanzplan zu kompensieren. ³ Ein Finanzierungsfehlbetrag im Geschäftsbericht ist im Voranschlag des übernächsten Jahres und der drei daran anschliessenden Jahre zu kompensieren. ⁴ Der Grosse Rat kann die Frist für die Kompensation des Finanzierungsfehlbetrags auf acht Jahre verlängern oder auf die Kompensation ganz verzichten, wenn mindestens drei Fünftel seiner Mitglieder es beschliessen. ⁵ Die Absätze 1-4 gelangen zur Anwendung, wenn die Bruttoschuldenquote, definiert als Bruttoschuld relativ zum kantonalen Volkseinkommen, einen Wert von 12 Prozent übersteigt. Massgebend ist die Quote am Ende des vorausgegangenen Kalenderjahres. | Art. 101b Abs. 2-5 ² Ein Selbstfinanzierungsgrad der Nettoinvestitionen unter 100 Prozent im Budget ist im Aufgaben- und Finanzplan zu kompensieren, soweit er nicht durch Finanzierungsüberschüsse der fünf dem Budgetjahr vorausgegangenen Jahre gedeckt ist. ³ Ein Finanzierungsfehlbetrag im Geschäftsbericht ist innert fünf Jahren zu kompensieren, soweit er nicht durch Finanzierungsüberschüsse der fünf dem Rechnungsjahr vorausgegangenen Jahre gedeckt ist. ⁴ Der Grosse Rat kann die Frist für die Kompensation des Finanzierungsfehlbetrags mit Zustimmung von drei Fünfteln seiner Mitglieder auf neun Jahre verlängern oder ganz auf die Kompensation verzichten. ⁵ Die Absätze 1-4 gelangen zur Anwendung, wenn die Nettoschuldenquote, definiert als Nettoschuld I relativ zum kantonalen Bruttoinlandprodukt, einen Wert von sechs Prozent übersteigt. Massgebend ist die Quote am Ende des vorausgegangenen Kalenderjahres. |
Nach Artikel 100 Absatz 4 der Bundesverfassung (BV) ³ berücksichtigen Bund, Kantone und Gemeinden in ihrer Einnahmen- und Ausgabenpolitik die Konjunkturlage. In die Souveränität der Kantone nach Artikel 3 BV fällt im Weiteren deren Organisationsautonomie. Der Bund beachtet diese (Art. 47 Abs. 2 BV). Die Änderung der KV-BE sieht Anpassungen bei den Schuldenbremsen vor, wovon die wichtigste die sogenannte Mehrjahresbetrachtung bei der Investitionsrechnung ist. ⁴ Falls der Kanton in den Vorjahren Überschüsse erwirtschaftet hat, soll er diese künftig für anstehende Investitionen anrechnen dürfen, was nach bisherigem Recht nicht möglich war. ⁵ Die Änderung betrifft die kantonale Ausgabenpolitik und die Organisationsautonomie des Kantons. Sie ist bundesrechtskonform und damit zu gewährleisten.
³ SR 101
⁴ Vgl. S. 2 des kantonalen Abstimmungsbüchleins zur Abstimmung vom 18. Juni 2023.
⁵ ebd .
1.2 Verfassung des Kantons Waadt
1.2.1 Volksabstimmung vom 18. Juni 2023
Die Stimmberechtigten des Kantons Waadt haben in der Volksabstimmung vom 18. Juni 2023 verschiedenen Änderungen der Verfassung des Kantons Waadt vom 14. April 2003 ⁶ (KV-VD) betreffend den Klimaschutz mit 117 218 Ja gegen 65 375 Nein zugestimmt. Mit Schreiben vom 16. August 2023 ersuchen die Präsidentin des Staatsrates und der Kanzler im Namen des Staatsrates um die eidgenössische Gewährleistung.
⁶ SR 131.231
1.2.2 Klimaschutz
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Art. 6 Staatsziele und -grundsätze [Marginalie] | Art. 6 Abs. 1 Bst. e und 2 Bst. f ¹ Der Staat setzt sich zum Ziel:e. den Klima- und Biodiversitätsschutz sowie die Bekämpfung der Klimaerwärmung und des damit verbundenen Klimawandels.² Der Staat achtet in seinem Handeln darauf, dass:f. dem Umweltnotstand Rechnung getragen wird. | |
Art. 52b Klimaschutz [Marginalie] ¹ Der Staat und die Gemeinden sorgen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben für den Klimaschutz und bekämpfen die Klimaerwärmung und den damit verbundenen Klimawandel. ² Um dieses Ziel zu erreichen, vermindern der Staat und die Gemeinden signifikant die negativen Klimaauswirkungen jeder ihrer Massnahmen. ³ Die öffentlich-rechtlichen Pensionskassen des Staates und der Gemeinden leisten ebenfalls ihren Beitrag zur Erreichung dieses Ziels. | ||
Art. 162 Beteiligungen [Marginalie] | Art. 162 Abs. 1 bis ¹bis Der Staat und die Gemeinden sorgen dafür, dass diese juristischen Personen bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten zumindest dazu beitragen, die Verpflichtungen der Schweiz zur Bekämpfung der Klimaerwärmung und des damit verbundenen Klimawandels einzuhalten. | |
Art. 179b Übergangsbestimmung zu Artikel 52 b [Marginalie] ¹ Bei der Erfüllung ihrer Aufgaben müssen der Staat und die Gemeinden bis spätestens 2050 die Klimaneutralität erreichen. Zu diesem Zweck erarbeiten sie Aktionspläne mit Zwischenzielen für 2030 und 2040. ² Um zur Erreichung der Klimaneutralität bis spätestens 2050 beizutragen, müssen die öffentlich-rechtlichen Pensionskassen des Staates und der Gemeinden alle fünf Jahre eine klimaverantwortliche und -verträgliche Investitionsstrategie beschliessen. | ||
Art. 179c Übergangsbestimmung zu Artikel 162 Absatz 1bis [Marginalie] ¹ Der Staat und die Gemeinden sorgen dafür, dass die juristischen Personen nach Artikel 162 Absatz 1 Aktionspläne zur massiven Verminderung von Finanzflüssen und Anlagen, die den internationalen Klimazielen der Schweiz widersprechen (Desinvestition aus fossiler Energie), erarbeiten, mit Zwischenzielen für 2030 und 2040. ² Der Staat und die Gemeinden sorgen dafür, dass die mit der Desinvestition freiwerdenden Mittel in Vorhaben investiert werden, welche den Grundsätzen nach Artikel 52 b folgen und dabei auch sozialverantwortlich sind. |
Nach Artikel 74 Absatz 1 BV erlässt der Bund Vorschriften über den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt vor schädlichen oder lästigen Einwirkungen. Der Bund verfügt dementsprechend über eine allgemeine, konkurrierende und nachträglich derogierende Rechtsetzungskompetenz. ⁷ Die Bundesversammlung hat im Bereich des Klimaschutzes gestützt darauf insbesondere das CO
2
-Gesetz vom 23. Dezember 2011 ⁸ und das Energiegesetz vom 30. September 2016 ⁹ erlassen. Die Kantone behalten ihre Rechtsetzungskompetenzen, soweit der Bund seine nicht vollständig ausgeschöpft hat, und überdies die Kompetenzen in ihren eigenen Zuständigkeitsbereichen, wobei die kantonale Rechtsetzung das Bundesumweltrecht unterstützen kann, indem es dieses ergänzt oder verstärkt. 1⁰ Im Bereich des Klimaschutzes sind beispielsweise vor allem die Kantone zuständig für Massnahmen, die den Verbrauch von Energie in Gebäuden betreffen (Art. 89 Abs. 4 BV).
Die Änderung der KV-VD sieht insbesondere vor, dass der Klima- und Biodiversitätsschutz sowie die Bekämpfung der Klimaerwärmung und des damit verbundenen Klimawandels Ziele des Staates sind. Bei der Erfüllung ihrer Aufgaben müssen der Staat und die Gemeinden bis spätestens 2050 die Klimaneutralität erreichen. Um dieses Ziel zu erreichen, vermindern sie signifikant die negativen Klimaauswirkungen jeder ihrer Massnahmen. Sie erarbeiten Aktionspläne mit Zwischenzielen für 2030 und 2040. Um zur Erreichung der Klimaneutralität bis spätestens 2050 beizutragen, müssen die öffentlich-rechtlichen Pensionskassen des Staates und der Gemeinden alle fünf Jahre eine klimaverantwortliche und -verträgliche Investitionsstrategie beschliessen. Der Staat und die Gemeinden sorgen dafür, dass die juristischen Personen, an denen sie beteiligt sind, Aktionspläne zur massiven Verminderung von Finanzflüssen und Anlagen, die den internationalen Klimazielen der Schweiz widersprechen (Desinvestition aus fossiler Energie), erarbeiten, mit Zwischenzielen für 2030 und 2040.
Die Ziele der Änderung der KV-VD gehen in die gleiche Richtung wie diejenigen des Bundes, der selber das Netto-Null-Emissionsziel bis 2050 beschlossen hat. 1¹ Die Ziele des Kantons Waadt implizieren insbesondere Massnahmen im Bereich des Energieverbrauchs in Gebäuden, ein Bereich, in dem die Bundeskompetenzen begrenzt sind. Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach Artikel 52 b Absatz 3 und 179 b Absatz 2 KV-VD müssen die öffentlich-rechtlichen Pensionskassen des Staates und der Gemeinden insbesondere die im Bereich der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge anwendbare Bundesgesetzgebung einhalten. Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach Artikel 162 Absatz 1bis und 179 c KV-VD müssen der Staat und die Gemeinden, insbesondere wenn es sich um privatrechtliche Beteiligungen handelt, das anwendbare Bundesrecht einhalten. Die Änderung der KV-VD ist bundesrechtskonform und damit zu gewährleisten. Deren Anwendung und die kantonale Ausführungsgesetzgebung muss indessen mit dem höherrangigen Recht vereinbar sein, insbesondere mit dem CO
2
-Gesetz, dem Energiegesetz und dem Bundesgesetz vom 25. Juni 1982 ¹2 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge.
⁷ Vgl. Anne-Christine Favre in: Vincent Martenet / Jacques Dubey (Hrsg.), Constitution fédérale, Comm. romand, Basel 2021, Art. 74 Rz. 14.
⁸ SR 641.71
⁹ SR 730.0
1⁰ Vgl. ebd ., Art. 74 Rz. 15.
1¹ Vgl. Art. 3 des Bundesgesetzes vom 30. September 2022 über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit ( BBl 2022 2406 , Referendumsvorlage), angenommen in der Volksabstimmung vom 18. Juni 2023 (noch nicht in Kraft getreten).
¹2 SR 831.40
1.3 Verfassung der Republik und des Kantons Genf
1.3.1 Volksabstimmung vom 18. Juni 2023
Die Stimmberechtigten des Kantons Genf haben in der Volksabstimmung vom 18. Juni 2023 dem neuen Artikel 21A der Verfassung der Republik und des Kantons Genf vom 14. Oktober 2012 ¹3 (KV-GE) betreffend das Recht auf digitale Integrität mit 100 286 Ja gegen 6160 Nein zugestimmt. Sie haben im Weiteren dem neuen Artikel 38A KV-GE betreffend das Recht auf Ernährung mit 71 264 Ja gegen 34 115 Nein und der Änderung von Artikel 205 KV-GE betreffend die Elternschaftsversicherung mit 61 463 Ja gegen 44 683 Nein zugestimmt. Mit drei Schreiben vom 16. August 2023 ersuchen der Präsident des Staatsrates und die Kanzlerin im Namen des Staatsrates um die eidgenössische Gewährleistung.
¹3 SR 131.234
1.3.2 Recht auf digitale Integrität
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Art. 21A Recht auf digitale Integrität ¹ Jede Person hat das Recht auf den Schutz ihrer digitalen Integrität. ² Die digitale Integrität schliesst insbesondere das Recht ein, gegen die missbräuchliche Bearbeitung von Daten ihres digitalen Lebens geschützt zu sein, das Recht auf Sicherheit im digitalen Raum, das Recht auf ein Offline-Leben sowie das Recht auf Vergessen. ³ Die Bearbeitung von Personendaten, die in der Verantwortung des Staates liegt, darf nur im Ausland erfolgen, soweit ein angemessener Schutz gewährleistet ist. ⁴ Der Staat fördert die digitale Integration und sensibilisiert die Bevölkerung für die digitalen Herausforderungen. Er setzt sich für die Entwicklung der digitalen Souveränität der Schweiz ein und wirkt bei deren Umsetzung mit. |
Nach Artikel 13 Absatz 2 BV hat jede Person Anspruch auf Schutz vor Missbrauch ihrer persönlichen Daten. Gestützt auf die Artikel 95 Absatz 1, 97 Absatz 1, 122 Absatz 1 und 173 Absatz 2 BV hat die Bundesversammlung das Datenschutzgesetz vom 25. September 2020 ¹4 (DSG) erlassen. Nach Artikel 1 DSG bezweckt das Gesetz den Schutz der Persönlichkeit und der Grundrechte von natürlichen Personen, über die Personendaten bearbeitet werden. Das DSG regelt abschliessend die Bearbeitung von Personendaten natürlicher Personen durch private Personen und durch Bundesorgane. ¹5 Dementsprechend sind die Kantone im Bereich des Datenschutzes nur dafür zuständig, die Bearbeitung von Personendaten durch kantonale und kommunale Behörden zu regeln. ¹6
Artikel 21A Absatz 1 KV-GE führt ein neues Grundrecht in die KV-GE ein, nämlich das Recht jeder Person auf den Schutz ihrer digitalen Integrität. Nach Artikel 21A Absatz 2 KV-GE schliesst die digitale Integrität insbesondere das Recht ein, gegen die missbräuchliche Bearbeitung von Daten ihres digitalen Lebens geschützt zu sein, das Recht auf Sicherheit im digitalen Raum, das Recht auf ein Offline-Leben sowie das Recht auf Vergessen. In die Souveränität der Kantone nach Artikel 3 BV fällt es, weitere vom Bund nicht ausdrücklich gewährleistete Grundrechte zu garantieren. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung haben kantonale Grundrechtsgarantien dort selbstständige Bedeutung, wo sie über die entsprechenden Rechte der Bundesverfassung oder der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ¹7 hinausgehen oder ein Recht gewährleisten, das die Bundesverfassung nicht garantiert. ¹8 Das neue kantonale Grundrecht schützt die betroffenen Personen nur im Hinblick auf die Bearbeitung von Personendaten durch kantonale und kommunale Behörden, selbstständige öffentliche Anstalten und alle andern öffentlich- oder privatrechtlichen Organe, denen öffentlich-rechtliche kantonale oder kommunale Aufgaben übertragen sind. ¹9
Nach Artikel 21A Absatz 3 KV-GE darf die Bearbeitung von Personendaten, die in der Verantwortung des Staates liegt, nur im Ausland erfolgen, soweit ein angemessener Schutz gewährleistet ist. Das DSG enthält eine analoge Bestimmung bezüglich der Bekanntgabe von Personendaten ins Ausland durch Bundesorgane oder private Personen (Art. 16 DSG). Gemäss Artikel 21A Absatz 4 KV-GE fördert der Staat die digitale Integration und sensibilisiert die Bevölkerung für die digitalen Herausforderungen. Er setzt sich für die Entwicklung der digitalen Souveränität der Schweiz ein und wirkt bei deren Umsetzung mit.
Der neue Artikel 21A KV-GE verfolgt die gleichen Ziele wie Artikel 13 BV und das DSG. Soweit er auf die Datenbearbeitung durch kantonale und kommunale Organe Anwendung findet, fällt er in die Kompetenz der Kantone. Demgegenüber ist der kantonale Gesetzgeber nicht befugt, Regelungen in Bezug auf das Recht auf digitale Integrität unter privaten Personen zu treffen.
¹4 SR 235.1
¹5 Vgl. BBl 1988 II 413 , 425 .
¹6 Vgl. BBl 2017 6941 , 6982 f.
¹7 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, SR 0.101 .
¹8 BGE 121 I 267 E. 3a
¹9 Vgl. S. 18 des Berichts vom 2. Mai 2022 der Menschenrechtskommission (Personenrecht) des Grossen Rates, die damit beauftragt ist, den Entwurf für das Verfassungsgesetz PL 12945 «Für einen starken Schutz des Individuums im digitalen Raum» zu prüfen.
1.3.3 Recht auf Ernährung
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Art. 38A Recht auf Ernährung Das Recht auf Ernährung ist gewährleistet. Jede Person hat das Recht auf angemessene Ernährung sowie davor geschützt zu sein, Hunger zu leiden. |
Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat nach Artikel 12 BV Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Artikel 38A KV-GE führt ein neues Grundrecht in die KV-GE ein, nämlich das Recht auf Ernährung. Danach hat jede Person das Recht auf angemessene Ernährung sowie davor geschützt zu sein, Hunger zu leiden. Wie im vorangegangenen Kapitel ausgeführt, fällt es in die Souveränität der Kantone nach Artikel 3 BV, weitere vom Bund nicht ausdrücklich gewährleistete Grundrechte zu garantieren. Diese kantonalen Grundrechte haben dort selbstständige Bedeutung, wo sie über die entsprechenden Rechte der Bundesverfassung oder der EMRK hinausgehen oder ein Recht gewährleisten, das die Bundesverfassung nicht garantiert. Der neue Artikel 38A KV-GE betrifft die Souveränität der Kantone. Die Änderung ist bunderechtskonform und somit zu gewährleisten.
1.3.4 Elternschaftsversicherung
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Art. 205 Familie [Marginalie] ³ Er [Der Staat] gewährleistet ergänzend zur Bundesgesetzgebung einen Versicherungsschutz von mindestens sechzehn Wochen bei Mutterschaft oder Adoption. | Art. 205 Abs. 3 und 4 ³ Er gewährleistet in Ergänzung zur Bundesgesetzgebung eine durch paritätische Beiträge der Arbeitgeber und der Arbeitnehmenden finanzierte Versicherung von mindestens sechszehn Wochen bei Mutterschaft und von mindestens acht Wochen für den andern Elternteil. Auf gemeinsames Gesuch der beiden aus der Versicherung Begünstigten gewährleistet der Staat die Möglichkeit, dass einer der Begünstigten zwei Wochen der Versicherung auf den andern Begünstigten übertragen kann. ⁴ Absatz 3 ist analog bei Adoption und bei Aufnahme zur dauerhaften Unterbringung anwendbar. Der Ehegatte oder eingetragene Partner des adoptierenden oder aufnehmenden Elternteils profitiert so von der Versicherung des andern Elternteils. |
Nach Artikel 116 Absatz 3 BV richtet der Bund eine Mutterschaftsversicherung ein. Der Bund verfügt damit über einen umfassenden und konkurrenzierenden Gesetzgebungsauftrag. 2⁰ Die Kantone können in diesem Bereich somit nur insoweit gesetzgeberisch tätig werden, als der Bund seine Kompetenzen nicht ausgeschöpft hat. 2¹ In ihrem Bericht vom 15. April 2019 2² zur parlamentarischen Initiative 18.441 «Indirekter Gegenentwurf zur Vaterschaftsurlaubs-Initiative» untersucht die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerats (SGK-S) den Geltungsbereich von Artikel 116 Absatz 3 BV. Sie behandelt darin vor allem die Frage, ob diese Bestimmung dem Bund auch die Kompetenz gibt, eine Vater- oder Elternschaftsversicherung einzurichten. Sie bezieht sich dazu insbesondere auf den Bericht «Vaterschaftsurlaub und Elternurlaub. Auslegeordnung und Präsentation unterschiedlicher Modelle», den der Bundesrat am 30. Oktober 2013 ²3 in Erfüllung des Postulats 11.3492 Fetz (nachstehend: Bericht Fetz 2013) verabschiedet hat, und kommt zum Schluss, dass der Begriff der Mutterschaftsversicherung weit gefasst werden kann und nicht nur das Mutterschaftsrisiko im üblichen Sinne, d. h. Schwangerschaft und Geburt eines Kindes, betrifft, sondern auch Risiken im Zusammenhang mit mutterschaftsähnlichen Situationen, insbesondere die Adoption. ²4 Wie die SGK-S präzisiert, bedeutet der in Artikel 116 Absatz 3 BV enthaltene Gesetzgebungsauftrag zur Einrichtung einer Mutterschaftsversicherung nicht, dass der Bund auch eine Erwerbsersatzentschädigung bei Elternurlaub vorsehen muss. ²5 Sie hält fest, dass das Bundesparlament, wie sich aus den verschiedenen Vorbereitungsarbeiten ergibt, Artikel 116 Absatz 3 BV dahingehend verstanden hat, dass er sich nicht auf diesen einen Gesetzgebungsauftrag beschränkt, sondern darüber hinausgeht. ²6 Sie schliesst daraus, dass der Gesetzgeber befugt, jedoch nicht gezwungen ist, Massnahmen im Zusammenhang mit der Mutterschaftsversicherung zu treffen (z. B. die Ausrichtung einer Erwerbsersatzentschädigung bei Adoption, Vaterschafts- oder Elternurlaub). ²7
Gestützt auf diese Verfassungsbestimmung hat der Bundesgesetzgeber nicht nur die Mutterschaftsentschädigung (Art. 16 b -16 h Erwerbsersatzgesetz vom 25. September 1952 ²8 [EOG]) eingerichtet, sondern auch die Entschädigung des andern Elternteils (Art. 16 i -16 m EOG; bis zum 31. Dezember 2023: Vaterschaftsentschädigung) und die Adoptionsentschädigung (Art. 16 t -16 x EOG). Gestützt auf Artikel 117 Absatz 1 BV hat er auch noch die Entschädigung für Eltern, die ein wegen Krankheit oder Unfall gesundheitlich schwer beeinträchtigtes Kind betreuen (Art. 16 n -16 s EOG), beschlossen. ²9 Das EOG enthält nur im Bereich der Mutterschafts- und der Adoptionsentschädigung einen Vorbehalt zugunsten der Kantone: Nach den Artikeln 16 h und 16 x EOG können die Kantone eine höhere oder länger dauernde Mutterschafts- oder Adoptionsentschädigung vorsehen und zu deren Finanzierung besondere Beiträge 3⁰ erheben. Während der parlamentarischen Beratungen zum Vaterschaftsurlaub haben mehrere Minderheiten Bestimmungen zugunsten der Kantone analog zu derjenigen bei der Mutterschaftsentschädigung (Art. 16 h EOG) beantragt, und zwar in einem Artikel 16 j EOG (Elternschaftsentschädigung) oder 16 n EOG (Vaterschaftsentschädigung). 3¹ Alle diese Minderheitsanträge wurden abgelehnt. 3² Die Kantone können deshalb nur bei der Mutterschafts- und Adoptionsentschädigung z. B. über die vierzehnwöchige Mutterschaftsentschädigung des Bundesrechts (Art. 16 c Abs. 2 EOG) hinausgehen und zwei Zusatzwochen vorsehen, die durch einen kantonalen Zuschlag auf die Beiträge nach der Erwerbsersatzordnung (EO-Beiträge) finanziert werden. 3³
Die Änderung von Artikel 205 Absatz 3 KV-GE sieht vor, dass der Staat in Ergänzung zur Bundesgesetzgebung eine durch paritätische Beiträge der Arbeitgeber und der Arbeitnehmenden finanzierte Versicherung von mindestens sechszehn Wochen bei Mutterschaft und von mindestens acht Wochen für den andern Elternteil gewährleistet. Auf gemeinsames Gesuch der beiden aus der Versicherung Begünstigten gewährleistet der Staat die Möglichkeit, dass einer der Begünstigten zwei Wochen der Versicherung auf den andern Begünstigten übertragen kann. Nach Artikel 205 Absatz 4 KV-GE ist Absatz 3 analog bei Adoption und bei Aufnahme zur dauerhaften Unterbringung anwendbar. Der Ehegatte oder eingetragene Partner des adoptierenden oder aufnehmenden Elternteils profitiert so von der Versicherung des andern Elternteils.
Aufgrund einer Anfrage des Staatsrates der Republik und des Kantons Genf hat sich das Bundesamt für Justiz (BJ) mit Schreiben vom 10. März 2022 zur Bundesrechtskonformität des Entwurfs der vorstehenden Änderung der KV-GE geäussert. Nach Auffassung des BJ hat der kantonale Gesetzgeber in jedem Fall die Kompetenz, für die Arbeitnehmenden mit öffentlich-rechtlichem Arbeitsvertrag einen kantonalen Eltern- oder Vaterschaftsurlaub einzuführen, der länger dauert als derjenige nach Bundesrecht, vorausgesetzt die Finanzierung erfolgt nicht aus EO-Beiträgen oder einem kantonalen Zuschlag auf die EO-Beiträge. Die Einführung eines kantonalen Eltern- oder Vaterschaftsurlaubs für die Arbeitnehmenden mit privatrechtlichem Arbeitsvertrag ist heikler. Sie darf nicht in die Kompetenzen des Bundes im Bereich des Zivilrechts eingreifen. Dennoch erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Kantone über einen Handlungsspielraum verfügen, um einen Eltern- oder Vaterschaftsurlaub einzuführen, der nicht im Widerspruch zum Bundesrecht steht, wenn sie ein öffentliches Interesse verfolgen, das der Bundesgesetzgeber anders als beim Arbeitnehmerschutz nicht abschliessend geregelt hat. Ein solches kantonales öffentliches Interesse könnte z. B. der Kindesschutz oder die Gleichstellung von Frau und Mann sein. Für die Finanzierung eines solchen kantonalen Urlaubs gelten die vorstehenden Einschränkungen ebenfalls, d. h. die Finanzierung darf nicht aus EO-Beiträgen, einem kantonalen Zuschlag auf die EO-Beiträge oder paritätischen Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmenden erfolgen.
Mit Entscheid vom 25. Mai 2022 ³4 hat der Staatsrat der Republik und des Kantons Genf die kantonale Volksinitiative Nr. 184, die die vorstehende Änderung von Artikel 205 Absätze 3 und 4 KV-GE verlangt, für gültig erklärt. Gegen diesen Entscheid wurde keine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof der Republik und des Kantons Genf erhoben; der Entscheid ist somit in Rechtskraft erwachsen. In seinem Entscheid stellt der Staatsrat fest, dass der Bundesrat in seinem Bericht Fetz 2013 bestätigt, dass verfassungsrechtlich einer kantonal verankerten paritätischen Beitragsfinanzierung eines Vaterschafts- oder Elternurlaubs grundsätzlich nichts entgegensteht. ³5 Gemäss Staatsrat hat das BJ damit eine andere Auffassung als der Bundesrat, da das BJ in seinem Schreiben vom 10. März 2022 eine solche kantonale Finanzierung ausschliesst. ³6 Der Staatsrat ist der Auffassung, dass eine wörtliche, teleologische und historische Auslegung von Artikel 116 Absatz 3 BV nicht mit absoluter Sicherheit auf eine nicht auf Grundsätze beschränkte konkurrenzierende Kompetenz des Bundes im Bereich des Vaterschafts- oder Elternurlaubs schliessen lässt. ³7 Gemäss Staatsrat erscheint eine zu den Kantonen parallele Kompetenz in diesem Bereich nicht endgültig ausgeschlossen. ³8
Der Bundesrat stellt fest, dass es weder im Bericht der SGK-S zur parlamentarischen Initiative 18.441 «Indirekter Gegenentwurf zur Vaterschaftsurlaubs-Initiative» ³9 noch in den parlamentarischen Beratungen zu dieser Initiative 4⁰ Hinweise gibt, dass die Bundesversammlung eine parallele Kompetenz der Kantone im Bereich der Vater- oder Elternschaftsversicherung in Betracht gezogen hat, die den Kantonen die Finanzierung einer kantonalen Versicherung nach dem Vorbild der Sozialversicherungen des Bundes erlauben würde. Mit der Ablehnung der vorgenannten Minderheitsanträge hat die Bundesversammlung sogar ausdrücklich eine kantonale Kompetenz analog zu derjenigen im Bereich der Mutterschafts- und Adoptionsentschädigung ausgeschlossen. In diesen Bereichen haben die Kantone die Kompetenz, besondere Beiträge in den in Artikel 16 h bzw. 16 x EOG vorgesehenen Fällen zu erheben. Im Bereich der Versicherung des andern Elternteils oder der Elternschaftsversicherung haben sie diese Kompetenz nicht. Gewiss kann man sich fragen, ob der Entscheid des Bundesgesetzgebers, keine kantonale Kompetenz vorzusehen, die eine Ausdehnung des Vaterschaftsurlaubs erlaubt hätte, sich lediglich darauf beschränkt, einen kantonalen Zuschlag auf die EO-Beiträge auszuschliessen, oder ganz generell eine ergänzende kantonale Versicherung, die mit paritätischen Beiträgen finanziert wird. Die Äusserungen des Vertreters des Bundesrats im Ratsplenum wie auch die Sorge der Mehrheit, dass die Wirtschaft zu stark belastet wird, sprechen für die zweite Auffassung. Dies wird auch durch den späteren Entscheid der Bundesversammlung bestätigt, nicht auf die Standesinitiative 20.320 «Bestimmungen zum Recht auf Eltern- oder Vaterschaftsurlaub und zu dessen Dauer. Allfällige Erlassung durch die Kantone» 4¹ einzutreten, die den Kantonen, ohne verbleibende Untersicherheiten, unter anderem die Möglichkeit eröffnet hätte, kantonale Zuschläge zu erheben. Mangels einer bundesgesetzlichen Delegation beschränkt sich die Möglichkeit der Kantone, grosszügigere Leistungen im Bereich des Vaterschaftsurlaubs vorzusehen, somit auf Leistungen, die ein anderes in der Kompetenz der Kantone liegendes Ziel verfolgen. So behalten die Kantone die Kompetenz, als Arbeitgeber des öffentlichen Sektors einen aus allgemeinen Mitteln finanzierten grosszügigeren Vaterschaftsurlaub einzurichten und ebenso für Familien in Schwierigkeiten Sozialhilfebeiträge vorzusehen.
Das Schreiben des BJ vom 10. März 2022, auf den sich der Staatsrat bezieht, widerspricht nicht dem Bundesrat, wenn es die Finanzierung eines kantonalen Eltern- oder Vaterschaftsurlaubs durch kantonale paritätische Beiträge ausschliesst. Der Bericht Fetz stammt von 2013 während der Vaterschaftsurlaub auf Bundesebene 2021 eingeführt wurde. Aufgrund des Vorrangs des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1 BV) haben die Kantone seit 2021 nicht mehr die Kompetenz, eine solche kantonale Finanzierung vorzusehen. Der Bericht Fetz 2013 ist in diesem Punkt nicht mehr aktuell.
Aus den dargelegten Gründen beantragt der Bundesrat der Bundesversammlung, die Änderung von Artikel 205 Absätze 3 und 4 KV-GE nur teilweise zu gewährleisten. Sie ist bundesrechtskonform und kann gewährleistet werden, soweit sie in Ergänzung zur Bundesgesetzgebung eine durch paritätische Beiträge der Arbeitgeber und der Arbeitnehmenden finanzierte Versicherung von mindestens sechszehn Wochen bei Mutterschaft (vgl. Art. 16 h EOG) und, in Analogie dazu, bei Adoption (vgl. Art. 16 x EOG) vorsieht. Im Übrigen ist sie nicht bundesrechtskonform und kann nicht gewährleistet werden. 4² Mit Ausnahme der Aufnahme zur dauerhaften Unterbringung würde jedoch eine vom Bundesrat in die Vernehmlassung gegebene Änderung des EOG, die den Kantonen erlaubt, einen verlängerten Vaterschaftsurlaub z. B. mit einem kantonalen Zuschlag auf die EO-Beiträge zu finanzieren, 4³ künftig die Bundesrechtskonformität der vorliegenden Änderung der KV-GE bewirken. Falls das EOG in diesem Sinne geändert wird, so beantragt der Bundesrat der Bundesversammlung in einer zukünftigen Gewährleistungsbotschaft von Amtes wegen die Gewährleistung der Versicherung für den andern Elternteil.
2⁰ Vgl. Stéphanie Perrenoud in: Vincent Martenet / Jacques Dubey (Hrsg.), Bundesverfassung, Comm. romand, Basel 2021, Art. 116, Rz. 26.
2¹ Vgl. VPB 2001, 65.92 , Ziff. 2.
2² BBl 2019 3405
²3 www.parlament.ch/de > Ratsbetrieb > Suche Curia Vista > 11.3492 > Bericht in Erfüllung des parlamentarischen Vorstosses > Vaterschaftsurlaub und Elternurlaub; Auslegeordnung und Präsentation unterschiedlicher Modelle. Bericht des Bundesrates vom 30. Oktober 2013 in Erfüllung des Postulats Fetz (11.3492) vom 6. Juni 2011
²4 BBl 2019 3405 , 3410
²5 ebd .
²6 ebd .
²7 ebd.
²8 SR 834.1
²9 BBl 2019 4103 , 4160 f.
3⁰ Unter besonderen Beiträgen kann eine Finanzierung nach dem Modell der Erwerbsersatzentschädigung verstanden werden, die aus einem «kantonalen Zuschlag» auf die EO-Beiträge bestehen kann, einschliesslich der Beiträge der Arbeitgeber, vgl. VPB 2005, 69.74 , Ziff. 1.2.2.
3¹ AB 2019 N 1487 f.
3² ebd .
3³ Vgl. VPB 2005, 69.74 , Ziff. 2.1.
³4 Amtsblatt der Republik und des Kantons Genf vom 27. Mai 2022.
³5 Vgl. Entscheid vom 25. Mai 2022 des Staatsrates der Republik und des Kantons Genf über die Gültigkeit der kantonalen Volksinitiative 184 «Für einen Elternurlaub jetzt!», Rz. 109.
³6 Vgl. ebd. , Rz. 110.
³7 Vgl. ebd. , Rz. 118. Vgl. auch BGE 140 I 305 vom 15. September 2014, worin das Bundesgericht die Frage offengelassen hat (E. 7.2).
³8 Vgl. ebd. , Rz. 119 und 124 .
³9 BBl 2019 3405
4⁰ Vgl. AB 2019 S 554, 2019 N 1442. Bundesrat Alain Berset hat auf eine Frage der Minderheit VII, die einzig eine Kompetenz zugunsten der Kantone beantragt, besondere Beiträge für eine kantonale Vaterschaftsentschädigung erheben zu können (Art. 16 n EOG; Antrag anschliessend abgelehnt), präzisiert, dass «sobald der Mutter- und Vaterschaftsurlaub auf Bundesebene geregelt sind, man nicht mehr davon ausgehen könne, dass es eine Lücke gibt, in die die Kantone springen können, um zu tun, was ihnen gefällt» (AB 2019 N 1477). Der Bundesrat geht damit ebenfalls davon aus, dass es sich bei der Kompetenz, die Vaterschafts- und somit auch die Elternschaftsentschädigung zu regeln, um eine konkurrenzierende Kompetenz des Bundes und nicht bloss eine parallele handelt.
4¹ AB 2021 S 888, 2021 N 2666
4² Demgemäss werden nur folgende Teile der Änderung von Art. 205 KV-GE gewährleistet: «³ Er gewährleistet in Ergänzung zur Bundesgesetzgebung eine durch paritätische Beiträge der Arbeitgeber und der Arbeitnehmenden finanzierte Versicherung von mindestens sechszehn Wochen bei Mutterschaft. ⁴ Absatz 3 ist analog bei Adoption anwendbar.»
4³ Vgl. Art. 16 m bis Vorentwurf vom 22. Dezember 2023 EOG (nachstehend: VE-EOG); www.fedlex.admin.ch > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2023 > EDI > Angleichung der EO-Leistungen. Demgegenüber sieht weder das geltende EOG noch Art. 16 x VE-EOG vor, dass die Kantone eine Entschädigung bei Aufnahme zur dauerhaften Unterbringung vorsehen und zu deren Finanzierung besondere Beiträge erheben können.
1.4 Verfassung des Kantons Jura
1.4.1 Volksabstimmung vom 18. Juni 2023
Die Stimmberechtigten des Kantons Jura haben in der Volksabstimmung vom 18. Juni 2023 dem neuen Artikel 66 a der Verfassung vom 20. März 1977 der Republik und des Kantons Jura 4⁴ (KV-JU) betreffend die Amtsenthebung von kantonalen und kommunalen Behördenmitgliedern mit 14 701 Ja gegen 2096 Nein zugestimmt. Mit Schreiben vom 16. August 2023 ersuchen der Präsident und der Staatskanzler im Namen der Regierung der Republik und des Kantons Jura um die eidgenössische Gewährleistung.
4⁴ SR 131.235
1.4.2 Amtsenthebung von kantonalen und kommunalen Behördenmitgliedern
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Art. 66a Amtsenthebung ¹ Das Gesetz kann die Amtsenthebung der Mitglieder der Regierung, der richterlichen Behörden und der Gemeinderäte wegen schwerer Verfehlung oder dauerhafter Amtsunfähigkeit vorsehen. Es regelt das Verfahren und die Voraussetzungen. ² Das Gesetz kann die Abberufung der Regierung vorsehen, wenn die Mehrheit ihrer Mitglieder bei einem Amtsenthebungsverfahren gegen eines der Mitglieder zurücktritt. Es regelt das Verfahren und die Voraussetzungen. |
Nach Artikel 39 Absatz 1 BV regeln die Kantone die Ausübung der politischen Rechte in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten. Nach Artikel 50 Absatz 1 BV ist die Gemeindeautonomie nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet. In die Souveränität der Kantone nach Artikel 3 BV fällt im Weiteren deren Organisationsautonomie. Der Bund beachtet diese (Art. 47 Abs. 2 BV). Nach Artikel 66 a KV-JU kann das Gesetz die Amtsenthebung der Mitglieder der Regierung, der richterlichen Behörden und der Gemeinderäte wegen schwerer Verfehlung oder dauerhafter Amtsunfähigkeit vorsehen. Es kann im Weiteren die Abberufung der Regierung vorsehen, wenn die Mehrheit ihrer Mitglieder bei einem Amtsenthebungsverfahren gegen eines der Mitglieder zurücktritt. Es regelt das Verfahren und die Voraussetzungen. Die vorliegende Änderung betrifft die kantonalen und kommunalen politischen Rechte, die Gemeindeautonomie und die Organisationsautonomie des Kantons. Sie ist bundesrechtskonform und somit zu gewährleisten ⁴5 .
⁴5 Vgl. eine ähnliche Bestimmung in Artikel 50 a der Verfassung vom 24. September 2000 von Republik und Kanton Neuenburg ( SR 131.233 ), der die Bundesversammlung am 16. März 2022 die Gewährleistung erteilt hat ( BBl 2022 780 ).
2 Rechtliche Aspekte
2.1 Bundesrechtskonformität
Die Prüfung hat ergeben, dass die Änderungen der Verfassungen der Kantone Bern, Waadt und Jura die Anforderungen von Artikel 51 BV erfüllen. Somit ist ihnen die Gewährleistung zu erteilen. Dies gilt auch für die Änderungen der Verfassung des Kantons Genf betreffend Artikel 21A (Recht auf digitale Integrität) und Artikel 38A (Recht auf Ernährung).
Demgegenüber kann der Änderung der Verfassung des Kantons Genf betreffend Artikel 205 Absätze 3 und 4 (Elternschaftsversicherung) nur teilweise die Gewährleistung erteilt werden. Sie ist nur insoweit bundesrechtskonform und kann gewährleistet werden, als sie in Ergänzung zur Bundesgesetzgebung eine durch paritätische Beiträge der Arbeitgeber und der Arbeitnehmenden finanzierte Versicherung von mindestens sechszehn Wochen bei Mutterschaft (vgl. Art. 16 h EOG) und, in Analogie dazu, bei Adoption (vgl. Art. 16 x EOG) vorsieht. Im Übrigen ist sie nicht bundesrechtskonform und kann nicht gewährleistet werden. Mit Ausnahme der Aufnahme zur dauerhaften Unterbringung könnte der nicht gewährleistete Teil der Änderung dennoch gewährleistet werden, wenn im Bereich der Entschädigung des andern Elternteils eine zu Artikel 16 h EOG analoge Bestimmung in Kraft tritt. Ist das der Fall, so beantragt der Bundesrat in einer zukünftigen Gewährleistungsbotschaft die Gewährleistung.
2.2 Zuständigkeit der Bundesversammlung
Die Bundesversammlung ist nach den Artikeln 51 Absatz 2 und 172 Absatz 2 BV für die Gewährleistung zuständig.
2.3 Erlassform
Die Gewährleistung erfolgt mit einfachem Bundesbeschluss, da weder die BV noch ein Gesetz das Referendum vorsehen (vgl. Art. 141 Abs. 1 Bst. c i. V. m. Art. 163 Abs. 2 BV).
Bundesrecht
Botschaft zur Gewährleistung der geänderten Verfassungen der Kantone Bern, Waadt, Genf und Jura
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