Jährliche Beurteilung der Bedrohungslage Bericht des Bundesrates an die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit
Jährliche Beurteilung der Bedrohungslage Bericht des Bundesrates an die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit
vom 26. Juni 2024
Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren
Wir informieren Sie gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 2015 über unsere Beurteilung der Bedrohungslage.
Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
26. Juni 2024 | Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Viola Amherd Der Bundeskanzler: Viktor Rossi |
Beurteilung der Bedrohungslage
1 Ausgangslage
Gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 2015 ¹ (NDG) beurteilt der Bundesrat jährlich die Bedrohungslage der Schweiz und informiert die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit. Die Beurteilung bezieht sich auf die im NDG genannten Bedrohungen sowie auf sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland.
Eine umfassendere Lagedarstellung aus nachrichtendienstlicher Perspektive findet sich im jährlichen Lagebericht des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB) «Sicherheit Schweiz» ² . Die Prüfung der Frage, ob und inwieweit bei der Sicherheitspolitik und ihren Instrumenten wegen Lageveränderungen Anpassungsbedarf besteht, und die Festlegung von Prioritäten bleiben Aufgabe der regelmässigen Berichte über die Sicherheitspolitik der Schweiz.
Der aktuelle sicherheitspolitische Bericht wurde am 24. November 2021 ³ vom Bundesrat verabschiedet und veröffentlicht. Der Bundesrat hat hierzu am 7. September 2022 ⁴ einen Zusatzbericht mit einer erneuten Lagebeurteilung aufgrund des Kriegs Russlands gegen die Ukraine vorgelegt. Die neue sicherheitspolitische Strategie des Bundesrates ist für Ende 2025 in Vorbereitung. Der vorliegende Bericht fokussiert auf die Bedrohungen gemäss dem NDG und auf aktualisierte Einschätzungen zur bisherigen Beurteilung des strategischen Umfelds der Schweiz.
¹ SR 121
² Abrufbar unter: www.vbs.admin.ch ˃ Sicherheit ˃ Nachrichtendienst ˃ Nachrichtendienst des Bundes ˃ Weitere Informationen ˃ Dokumente ˃ Lageberichte ˃ Sicherheit Schweiz.
³ BBl 2021 2895
⁴ Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine; BBl 2022 2357 .
2 Übersicht
Das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz hat sich in den letzten Jahren verschlechtert, seit 2022 drastisch und voraussichtlich nachhaltig. So ist mit der russischen Aggression gegen die Ukraine der konventionelle Krieg nach Europa zurückgekehrt. Während Russland seine militärische Aggression gegen die Ukraine fortsetzt, entfalteten sich 2023 und 2024 mehrere Kriege und Krisen, die auch die Sicherheit Europas betreffen, darunter der terroristische Grossangriff der Hamas auf Israel und die daraus resultierende militärische Eskalation in der Region, Aserbaidschans militärisches Vorgehen im Bergkarabach-Konflikt, Gewaltausbrüche im Nordkosovo und Militärputsche in Niger und Gabun.
Eine weiter zunehmende Zahl sicherheitspolitisch relevanter Akteure charakterisiert das strategische Lagebild. Dazu gehören neben den rivalisierenden Gross- und Regionalmächten inter- und supranationale Institutionen, aber auch nichtstaatliche Akteure wie Nichtregierungsorganisationen, Technologiekonzerne, Terrororganisationen oder gar einzelne Personen wie Hackerinnen und Hacker, die unter den heutigen technologischen Rahmenbedingungen Staaten herausfordern können. Die Vielzahl der Akteure und die Vernetzung der Bedrohungen machen das sicherheitspolitische Umfeld unberechenbarer und erhöhen das Risiko für unvorhersehbare Entwicklungen.
Wir leben in einer gefährlichen und volatilen Übergangszeit. Allgemein verbindliche globale Ordnungsprinzipien erodieren. Es gibt Hinweise auf die Entwicklung hin zu einer neuen Weltordnung im Sinn einer Ausrichtung der internationalen Beziehungen: Seit mehreren Jahren dominiert der globale strategische Trend einer Blockbildung und der Herausbildung von zwei Sphären mit freiheitlich-demokratisch verfassten Staaten wie den USA, den EU-Mitgliedstaaten und weiteren westlichen Staaten, einschliesslich Japan, Südkorea und Australien, auf der einen Seite sowie China, Russland und anderen autoritären Staaten wie Nordkorea, Iran und Syrien auf der anderen Seite. Handels- und Investitionsbeziehungen folgen zunehmend einer macht- beziehungsweise geopolitischen Logik. Die beiden Sphären entwickeln sich jedoch in einer globalisierten, interdependenten Welt. Die Akteure in den zwei rivalisierenden Sphären versuchen, diese Sphären teilweise voneinander abzugrenzen (Stichworte «Derisking», «selektive Entkoppelung») und vertiefen die ökonomische Integration innerhalb der jeweiligen Sphäre. Gleichzeitig bleiben die meisten Akteure bestrebt, gewisse Kontakte und Handel auch mit Ländern des anderen Lagers aufrechtzuerhalten. Dies gilt auch für die Mehrzahl der europäischen Staaten. Ambitionierte Mittelmächte wie Indien, Saudi-Arabien oder die Türkei wollen weder von den USA noch von China abhängig sein und treiben mit China Handel, während sie von amerikanischem Schutz profitieren. Die sich abzeichnende Ordnung trägt neben machtpolitischen immer stärker auch Züge eines Systemwettbewerbs, ist aber fluid und noch wenig strukturiert.
3 Sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland
Die USA stehen 2024 vor einer Präsidentschaftswahl, die auch sicherheitspolitisch die Weichen anders stellen könnte. Die amerikanische Sicherheitsgarantie im Rahmen der Nato ist der traditionelle Achsnagel der transatlantischen und europäischen Sicherheit. Inwieweit die USA eine globale Ordnungsmacht bleiben, ist gerade für die Sicherheit Europas und damit auch der Schweiz eine entscheidende Frage.
Bislang hat der Krieg gegen die Ukraine Präsident Wladimir Putins Machterhalt nicht grundsätzlich gefährdet. Mit einer stärkeren Gewichtung der Rüstungsindustrie und einem signifikant erhöhten Militärbudget signalisierte dieser, dass er den Krieg nicht zu befristen gedenkt. Russland sieht sich seit Herbst 2023 im Aufwind, nachdem es die ukrainische Gegenoffensive abwehren konnte. Aber der Krieg auferlegt Russland gewaltige Kosten. Zum einen entfalten die westlichen Sanktionen ihre Wirkung, indem sie den Import moderner Technologie massiv erschweren und verteuern, auch wenn sie nicht zu einem Einbruch der russischen Wirtschaft geführt haben und Russlands Exporte - wenn auch unter erschwerten Bedingungen - weiter Abnehmer finden. Zum anderen wird Russland ohne Austausch mit Europa geschwächt und noch stärker von China abhängig. Russland wird auf lange Zeit der bestimmende Unsicherheitsfaktor in Europa bleiben.
China hat sich infolge des Kriegs gegen die Ukraine als Haupthandelspartner Russlands etabliert und unterstützt die russische Führung damit essenziell, wenn auch nicht vorbehaltslos. So hat China rote Linien bezüglich einer nuklearen Eskalation des Kriegs gegen die Ukraine gezogen. China lieferte Russland zwar Dual-Use-Güter für den Kriegsgebrauch, aber keine Waffensysteme, schwere Waffen oder Munition, die den Kriegsverlauf entscheidend verändert hätten. China unterstützt Russland auch diplomatisch im UNO-Sicherheitsrat und folgt Russlands Narrativ eines Kriegs gegen den Westen. Um die USA wirtschaftlich-technologisch zu überholen, bleibt China aber von der EU und ostasiatischen Demokratien als Wirtschaftspartner abhängig. Die EU ist diesbezüglich für China viel wichtiger als Russland. Aussenhandelsstatistiken seit Anfang 2022 zeigen, dass es Russland bisher nicht gelungen ist, seine früheren westlichen Partner durch China zu ersetzen.
Die meisten europäischen Staaten planen einen Ausbau der militärischen Kapazitäten. Die Unsicherheit über das künftige Engagement der USA in Europa macht dies dringend nötig, gerade weil der Krieg gegen die Ukraine die sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA deutlich belegt. Deutschland kündigte mit der «Zeitenwende» eine Kehrtwende der eigenen und der europäischen Sicherheitspolitik an. Die Vision einer von den USA und der Nato unabhängigen und strategisch autonomen EU bleibt aber auf absehbare Zeit unerreichbar. Zudem bleibt offen, ob die angelaufene militärische Aufrüstung in Europa mehr als nur ein temporäres Phänomen bleiben wird und finanziell und materiell ausreichend untermauert wird.
Derzeit fordern insbesondere fünf, trotz regionaler Ursprünge zunehmend miteinander verwobene Kriege, Konflikte und Krisen die westlichen Staaten sicherheitspolitisch heraus:
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Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich zu einem Abnutzungskrieg gewandelt. Die Ukraine bleibt existenziell abhängig von westlicher Hilfe. Seit Herbst 2023 hat sich die amerikanische Hilfe an die Ukraine verkompliziert und um ein halbes Jahr verzögert. Und auch für die Zeit nach den amerikanischen Wahlen 2024 bleibt ungewiss, ob und allenfalls in welchem Umfang die USA als derzeit wichtigster Verbündeter der Ukraine dem Land militärische und finanzielle Unterstützung zukommen lassen werden. Europäische Nato-Staaten und die EU könnten nur teilweise in die Lücke springen. Russland setzt parallel zum konventionellen Krieg in der Ukraine auch hybride Mittel in Europa ein. Davon ist zum Beispiel durch Beeinflussungsaktivitäten auch die Schweiz betroffen. In den vergangenen Monaten haben sich zudem Hinweise auf russische Sabotageaktionen in europäischen Staaten gehäuft.
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Der Konflikt im Nahen Osten bleibt zwar vorerst regional begrenzt, aber der Kriegsschauplatz umfasst neben Gaza auch die Seewege um Jemen. Die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Eskalation zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah steigt. Zudem kam es erstmals zu einem direkten militärischen Schlagabtausch zwischen Israel und dem Iran. Die Konfliktregion zieht internationale Aufmerksamkeit auf sich und konkurrenziert die westliche Unterstützung für die Ukraine. Insbesondere die USA verlieren in der arabischen Welt und im Globalen Süden weiter an Unterstützung. Zudem verstärkt der Konflikt auch die innenpolitische Polarisierung in westlichen Staaten. Die militärischen und politischen Beziehungen zwischen dem Iran und Russland werden enger. Diese Konstellation verstärkt das seit Langem bestehende schlechte Verhältnis zwischen dem Iran und den westlichen Staaten. Die Spannungen zwischen Israel und dem Iran bleiben anhaltend hoch, nach einer vorübergehenden militärischen Eskalation mit erstmaligen Angriffen auf das Territorium des anderen im Frühling 2024. Beide Staaten sind aber an einem offenen Krieg nicht interessiert. Eine Verhandlungslösung mit dem Iran im Nuklearbereich ist nicht absehbar. Eine weitere Normalisierung der politischen Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten verzögert sich aufgrund des Kriegs in Gaza. Sie ist zunehmend abhängig von der jeweiligen bilateralen Agenda und nicht mehr von einer definitiven israelisch-palästinensischen Vertragslösung beziehungsweise der Proklamation und internationalen Anerkennung eines Staates Palästina.
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Nordkorea hat trotz internationaler Isolation Wege für die Beschaffung gefunden und ist zum militärischen Partner Russlands und zum Rüstungslieferanten für dessen Krieg gegen die Ukraine geworden. Es bleibt vorerst offen, ob es im Gegenzug modernste russische Waffentechnologie erhält. Die Machtverhältnisse in Nordkorea sind trotz noch schlechterer sozioökonomischer Lage stabil. Die interkontinentale Reichweite seiner nuklear bestückbaren ballistischen Lenkwaffen macht das Land auch aus europäischer Sicht zu einem noch gewichtigeren sicherheitspolitischen Machtfaktor - auch wenn Europa nicht vorrangig zum Feindbild der Führung zählt.
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China rüstet massiv auf, ist aber in den nächsten Jahren noch nicht für einen militärischen Grosskonflikt um Taiwan bereit. Der chinesische Präsident Xi Jinping hat jedoch die Inkorporation der Insel in die Volksrepublik China zur «historischen Mission» erklärt. Zudem sind auch die hohen wirtschaftlichen Abhängigkeiten Chinas von westlichen Staaten, insbesondere in Europa, ein Hindernis. Eine Invasion Taiwans ist deshalb vorerst unwahrscheinlich, sofern nicht aus Sicht der chinesischen Führung eine rote Linie wie etwa eine taiwanesische Unabhängigkeitserklärung überschritten wird. Gegen Ende dieses Jahrzehnts könnte China aber allenfalls die nötigen militärischen Fähigkeiten haben oder glauben, darüber zu verfügen.
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In Afrika ereigneten sich seit 2020 in mehreren Staaten Militärputsche; die Tendenz zum Autoritarismus besteht fort. Das grösste Risikopotenzial hinsichtlich der Sicherheit weist der von schleichendem Staatszerfall und einer wachsenden dschihadistischen Bedrohung geprägte Sahel auf. Demokratische Akteure und die westlichen Staaten verlieren an Einfluss, Entwicklungsbemühungen stehen vor grösseren Herausforderungen.
4 Die Bedrohungen im Einzelnen
4.1 Terrorismus
Die Terrorbedrohung in der Schweiz bleibt erhöht. Allerdings haben der terroristische Grossangriff der Hamas auf Israel Anfang Oktober 2023 und die folgenden Kampfhandlungen diese akzentuiert. In diesem Kontext hat der «Islamische Staat» Anfang 2024 eine international orchestrierte Propagandakampagne lanciert, in der explizit auch zu Anschlägen in Europa aufgerufen wurde. Die Kampagne und mehrere medienwirksame Anschläge haben seit Jahresbeginn eine neue Dynamik in der dschihadistischen Bewegung entfaltet und dem «Islamischen Staat» zu neuer Anziehungskraft verholfen. Insbesondere die Propaganda des «Islamischen Staats» hat die Entstehung von Netzwerken von Sympathisantinnen und Sympathisanten in der Schweiz begünstigt, verstärkt bei jungen Erwachsenen oder sogar Minderjährigen.
Die Bedrohungslage wird massgeblich von der dschihadistischen Bewegung geprägt; deren wichtigster Akteur ist nach wie vor der «Islamische Staat», weit weniger die Al-Qaïda. Die Kernorganisation des «Islamischen Staats» und die Kern-Al-Qaïda sind zurzeit kaum fähig, eigenständig komplexe Anschläge in Europa vorzubereiten oder zu verüben. Als einzige Regionalgruppierung verfügt der Islamische Staat Khorasan über weitreichende Netzwerke und über grundlegende, wenn auch begrenzte Fähigkeiten und Mittel, bestehende Anschlagsabsichten in Europa in die Tat umzusetzen. Dabei ist er wahrscheinlich darauf angewiesen, Anhänger zu finden, die in Europa leben und sich zu Gewalttaten anstiften lassen. Andere Regionalgruppierungen und Ableger der Terrororganisationen sind trotz ihrer primär regionalen Ausrichtung gewillt und in der Lage, bei Gelegenheit Anschläge auf westliche Ziele ausserhalb Europas zu verüben. Dies könnte auch schweizerische Interessen im Ausland treffen.
Spontane Gewaltakte mit einfachen Mitteln, verübt von dschihadistisch inspirierten Einzeltäterinnen und -tätern oder Kleingruppen, bleiben das wahrscheinlichste Bedrohungsszenario in der Schweiz. Solche Gewalttaten richten sich am ehesten gegen schwach geschützte Ziele. Hierbei sind insbesondere jüdische und israelische Interessen exponiert. Der Messerangriff auf einen orthodoxen Juden Anfang März 2024 in Zürich bestätigt diese Beurteilung. Allerdings sind auch Grossveranstaltungen beziehungsweise publikumswirksame Anlässe für Dschihadisten attraktive Gelegenheiten, um Anschlagsabsichten umzusetzen. Dies gilt auch für die Schweiz.
Aus europäischen Gefängnissen entlassene Dschihadistinnen und Dschihadisten sowie Personen, die sich während der Haft radikalisiert haben, stellen weiter einen Risikofaktor dar. Eine Bedrohung für die Sicherheit Europas und der Schweiz bleiben auch Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus Dschihadgebieten. Die Fluchtbewegungen wegen des Kriegs gegen die Ukraine führten in der Schweiz nicht zu einer Erhöhung der Terrorbedrohung.
Ethno-nationalistisch motivierter Terrorismus bleibt eine Bedrohung. Weiterhin erhalten ethno-nationalistische Organisationen dank Propaganda, Rekrutierungen und Geldsammlungen Unterstützung aus Europa und der Schweiz.
4.2 Verbotener Nachrichtendienst
Die Bedrohung der Schweiz durch Spionage ist nach wie vor hoch. Verantwortlich dafür sind zum grössten Teil die rivalisierenden Gross- und Regionalmächte. Ein erheblicher Teil der Aktivitäten ausländischer Nachrichtendienste auf Schweizer Boden richtet sich in erster Linie gegen die jeweils eigenen Rivalen. Dazu kommen als Instrumente transnationaler Repression die Überwachung und Beeinflussung von Diasporagemeinschaften und politischen Oppositionellen durch autokratische Staaten.
Aber auch schweizerische Entitäten sind direkt von Spionageversuchen betroffen. Zu den ständigen Zielen gehört die Ausforschung von Bundesbehörden, insbesondere im Bereich Aussen- und Sicherheitspolitik. Inhaltlich sind aktuell wahrscheinlich die Beschaffung von Rüstungstechnologien und die Beziehungen der Schweiz zur EU und zur Nato von Interesse. Ebenso betreiben ausländische Nachrichtendienste Spionage gegen verschiedene Ziele in Wirtschaft und Forschung.
Nachrichtendienstliche Netzwerke werden weltweit nicht nur für Spionage gebraucht. Teile davon dienen der illegalen Beschaffung kritischer beziehungsweise sanktionierter Güter, der Verbreitung von Desinformation und Propaganda, der verdeckten Einflussnahme sowie der Vorbereitung und Durchführung von Entführungen, Sabotage und Attentaten.
4.3 NBC-Proliferation
Die internationalen Exportkontrollregime stehen vor grossen Herausforderungen. Zum Beispiel blockiert Russland die Listung relevanter neuer Güter und erreicht so, dass diese Technologien in absehbarer Zeit keiner Exportkontrolle unterworfen werden. Unter den heutigen Bedingungen kann Russland diese Blockade unbegrenzt weiterführen, weswegen neue Mittel notwendig sind, die die Implementierung von Exportkontrollen für neue Güter erlauben.
Die seit März 2022 erweiterten Sanktionen gegenüber Russland erreichen ihr Ziel, die russische Rüstungsindustrie zu schwächen, nur teilweise. Russland hat sich angepasst, verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel und hat zudem Strukturen geschaffen, um via Tarnfirmen in Drittstaaten, die die Sanktionen nicht mittragen, die benötigten Güter für die Rüstungsindustrie zu beschaffen. Dabei handelt es sich ebenso um hochwertige Dual-Use-Güter wie um einfaches, in grossen Mengen benötigtes Verbrauchsmaterial. Die verstärkte russische Nachfrage nach strategischen Produktionsmitteln bei stark reduzierter Verfügbarkeit ermöglicht hohe Margen und lockt zahlreich neue Akteure in russische Beschaffungsnetzwerke.
Nach zwei Jahrzehnten internationaler Sanktionen gegen das iranische Nuklearprogramm hat der Iran seine Abhängigkeit von westlichen Staaten in verschiedenen Schlüsseltechnologien stark reduziert. Die multilaterale Güterkontrolle allein ist derzeit nicht mehr in der Lage, den Bau einer iranischen Kernwaffe zu verhindern. Gleichzeitig ist die politische Führung zunehmend überzeugt, auch wirtschaftlich langfristig auf eine Einigung mit den westlichen Staaten verzichten zu können. Damit steigt der Druck auf die USA und Israel, die iranische Führung durch glaubhafte Androhung einer militärischen Reaktion von einem militärischen Nuklearprogramm abzuschrecken. Sollte die iranische Führung ihren Machterhalt von aussen bedroht sehen, ist diese abschreckende Wirkung allerdings nicht garantiert, zumal der Iran durch technische und bauliche Massnahmen seine Ausgangslage für einen erfolgreichen Griff nach einer Nuklearbewaffnung stetig verbessert.
Nordkorea treibt sein Nuklear- und Lenkwaffenprogramm entschlossen voran. Während der Pandemie hat das Land gezeigt, dass selbst eine drei Jahre dauernde, beinahe vollständige wirtschaftliche Isolierung die strategischen militärischen Programme nicht zu bremsen vermag. Mit dem Krieg gegen die Ukraine ist Nordkorea zudem zum Rüstungslieferanten eines Nuklearwaffenstaats geworden. Es wird versuchen, mit den zusätzlichen finanziellen Mitteln und der gewonnenen sicherheitspolitischen Postur sein Nuklear- und Trägermittelprogramm zu intensivieren und Anerkennung als Nuklearmacht zu erhalten, was die internationale Gemeinschaft entschieden ablehnt. Südkorea reagiert darauf mit umfangreichen Investitionen im Bereich ballistischer Lenkwaffen. Die gegenseitige Androhung von Präventivschlägen in Verbindung mit der zunehmenden Operationalisierung nordkoreanischer Trägermittelsysteme kurzer Reichweite erhöht das Risiko einer ungewollten folgenschweren Eskalation auf der koreanischen Halbinsel.
4.4 Angriffe auf kritische Infrastrukturen
Grundsätzlich zeigt sich die Bedrohungslage im Bereich der Angriffe auf kritische Infrastrukturen stabil. Die zwei prägenden Entwicklungen im Cyberbereich - der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die zunehmende Intensität von Ransomwareangriffen - bleiben für die Bedrohung und Sicherheit kritischer Infrastrukturen bestimmend. Derzeit gibt es keine konkreten Hinweise darauf, dass staatliche Akteure gegen die Schweiz gerichtete, direkte Sabotageangriffe auf kritische Infrastrukturen oder deren Betreiber planen. In einem direkten Konflikt mit einem Staat würden solche Angriffe rasch wahrscheinlicher. Kollateralschäden in der Schweiz bei Angriffen auf kritische Infrastrukturen im Ausland sind aber möglich. Die konkreteste Bedrohung sind die oft rein opportunistisch agierenden, kriminellen Akteure im Cyberbereich.
In Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine und dem aktuellen Konflikt im Nahen Osten werden auch weiterhin Gruppierungen, die mit einer Konfliktpartei sympathisieren, Angriffe vor allem auf die Verfügbarkeit von Systemen ausführen. Dies betraf 2023 zum Beispiel diverse Websites von Schweizer Unternehmen und Behörden. Angreiferin war eine Hacktivistengruppe, die sich selbst als prorussisch deklariert. Solche Angriffe verursachen keinen oder nur geringfügigen Schaden und zielen in erster Linie auf einen Öffentlichkeitseffekt. In seltenen Fällen verursachen sie aber Kollateralschäden. Solange der Krieg gegen die Ukraine und der aktuelle Konflikt im Nahen Osten andauern, muss mit solchen Angriffen insbesondere dann gerechnet werden, wenn die Schweiz politisch Position bezieht.
Mit der Digitalisierung administrativer und produktiver Prozesse nehmen Interdependenzen und die Abhängigkeit von IKT-Dienstleistern zu. Die Versorgungs- und Dienstleistungskette wird komplexer. Vor diesem Hintergrund nimmt das Schadenspotenzial sogenannter Ransomwareangriffe auf Unternehmen und kritische Infrastrukturen zu. Ransomwareangriffe auf IKT-Dienstleister wie Xplain oder Concevis, die auch für Schweizer Sicherheitsbehörden tätig waren, zeigen die Problematik solcher Abhängigkeiten: Die finanziell motivierten Gruppierungen, die hinter den Ransomwareangriffen standen, wählten ihre Ziele opportunistisch. Sie nahmen keine Rücksicht auf die Konsequenzen bei einem Ausfall kritischer Infrastrukturen oder der Veröffentlichung sensitiver, sicherheitsrelevanter Daten. Mit zunehmender Abhängigkeit können vermehrt kritische Infrastrukturen oder Prozesse in Mitleidenschaft gezogen werden, auch wenn der Angriff nicht direkt ihnen gilt. So wurden 2023 Sicherheitslücken in Anwendungen für Angriffe ausgenutzt, und innert kürzester Zeit wurde eine Vielzahl an Unternehmen, die diese Anwendungen einsetzten, Opfer von Ransomwaregruppen.
Dass meist finanzielle Motive hinter den festgestellten Cyberangriffen stehen, schliesst andere Motive nicht aus. Gewalttätig-extremistische, terroristische, nachrichtendienstliche oder machtpolitische Motive sind auch möglich. Entsprechend verfolgt die Täterschaft damit andere Ziele, die bis hin zu Sabotage reichen können. Bedrohungen für kritische Infrastrukturen gehen nicht allein von Cybermitteln aus. Auch physische Angriffe wie das Durchtrennen von Netzkabeln oder das Umsägen von Strommasten sind aus allen genannten oder anderen Motiven möglich.
4.5 Gewalttätiger Extremismus
Hinsichtlich der gewaltextremistischen Szenen in der Schweiz war das Jahr 2023 von einer Rückkehr zur Lage vor der akuten Phase der Coronapandemie gekennzeichnet. Während die gewalttätigen linksextremistischen Akteure sich mehrheitlich auf den Antifaschismus und die kurdische Sache konzentrieren, sucht ihr rechtsextremistisches Pendant immer noch den gemeinsamen thematischen Nenner. Entgegen Erwartungen interessiert der aktuelle Konflikt im Nahen Osten die gewalttätigen links- und rechtsextremistischen Akteure in der Schweiz nur am Rande; ein Grossteil der Szenen ist dem Thema ausgewichen.
Die Bedrohung durch rechtsextremistisch motivierten Terror in Europa nimmt weiter zu. So gab es auch in der Schweiz mehrere Fälle sehr junger Personen, die bereit waren, einen Terrorakt zu begehen. Die Annahme liegt nahe, dass deren Zahl in den kommenden Jahren noch weiter zunehmen wird, da Minderjährige und junge Erwachsene das bevorzugte Ziel einschlägiger Online-Propaganda sind. Diese explizite Gewaltpropaganda wird von internationalen Netzwerken unklaren Ursprungs produziert.
Das Risiko, dass gewalttätige linksextremistische Kreise gezielte Gewalt gegen Personen einsetzen oder sogar Terroranschläge verüben, erhöht sich in Europa. Die Schweiz bildet hier keine Ausnahme, obwohl hierzulande noch keine konkreten Anschlagspläne festgestellt wurden. Die von diesen Kreisen in Europa ausgehende Bedrohung wird in den kommenden Jahren zunehmen, da einige Akteure zum Beispiel in den Kurdengebieten einschlägige Fähigkeiten erworben haben und diese zuhause einsetzen könnten.
5 Auswirkungen auf die Schweiz
Die Schweiz ist zwar immer noch relativ sicher, aber angesichts des stark polarisierten Umfelds mit Multikrisen und mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikten in Europa und an Europas Peripherie deutlich weniger als vor 2022. Auch angesichts des Trends zur bipolaren Sphärenbildung ist mit wachsendem politischem und wirtschaftlichem Druck auf die Schweiz zu rechnen. In der Konsequenz dürften vermehrt Solidaritätsbeiträge und politische Positionierungen von der Schweiz gefordert werden.
Das Risiko eines militärischen Zwischenfalls zwischen Russland und der Nato ist seit 2022 erheblich gewachsen. Immerhin funktionierte bisher die nukleare Abschreckung zwischen den USA und Russland und die Akteure suchten keine geografische Ausweitung des Kriegs.
Auch das Risiko einer nuklearen Eskalation ist seit 2022 erhöht. Russland wird wahrscheinlich immer wieder mit Nuklearwaffen drohen. Es bleibt aber sehr unwahrscheinlich, dass es im Kontext des Angriffskriegs gegen die Ukraine eine Nuklearwaffe einsetzen wird. Die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes würde erst steigen, wenn die russische Führung die territoriale Integrität des Landes und die staatliche Souveränität existenziell bedroht sähe.
Terrorismus wird wie der gewalttätige Extremismus, verbotener Nachrichtendienst und NBC-Proliferation weiterhin die Schweiz bedrohen. Cybermittel bleiben in vielen Bereichen ein wichtiger Angriffsvektor. Die Coronapandemie, der Krieg gegen die Ukraine und der aktuelle Konflikt im Nahen Osten zeigen ferner, dass auch künftig mit sich schnell entwickelnden Krisen gerechnet werden muss, also auch mit einzelnen Ereignissen, die überraschend eintreten und massiven Schaden bewirken können.
Bundesrecht
Jährliche Beurteilung der Bedrohungslage. Bericht des Bundesrates an die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit
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