BBl 2024 1594
CH - Bundesblatt

Bericht des Bundesrates über die Aktivitäten der schweizerischen Migrationsaussenpolitik 2023

Bericht des Bundesrates über die Aktivitäten der schweizerischen Migrationsaussenpolitik 2023
vom 14. Juni 2024
Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren
Wir unterbreiten Ihnen den Bericht über die Aktivitäten der schweizerischen Migrationsaussenpolitik 2023 und bitten Sie, davon Kenntnis zu nehmen.
Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
14. Juni 2024 Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Viola Amherd Der Bundeskanzler: Viktor Rossi
Bericht

1 Zusammenfassung der Schwerpunkte im Jahr 2023

Die Zahl der Menschen, die weltweit vor Krieg, Konflikten und Verfolgung auf der Flucht sind, war mit mindestens 110 Millionen noch nie grösser als 2023. Grund dafür waren die anhaltende militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine und verschiedene weitere Krisenherde: Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) rief im Berichtsjahr eine Rekordzahl von 43 Notlagen in 29 Ländern aus. Zusammen mit einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Bedingungen und der humanitären Situation führte dies zu einem Anstieg der Fluchtbewegungen und der irregulären Migration auch nach Europa. Entsprechend standen die Asyl- und Unterbringungsstrukturen in der Schweiz 2023 vor enormen Herausforderungen: Mit 30 223 eingereichten Asylgesuchen war die Zahl so hoch wie noch nie seit 2015. Parallel dazu gewährte die Schweiz im Berichtsjahr 18 190 Personen aus der Ukraine den Schutzstatus S.
Die Schweizer Migrationsaussenpolitik war in dieser Ausgangslage besonders gefordert, um Partnerstaaten bei der Aufnahme von Geflüchteten zu unterstützen, die Perspektiven vor Ort zu verbessern und Alternativen zur irregulären Migration zu schaffen, die Rückkehr nicht schutzbedürftiger Personen zu beschleunigen und das Potenzial der regulären Migration für die nachhaltige Entwicklung zu fördern. Hierzu, und um eine kohärente Migrationsaussenpolitik sicherzustellen, arbeiteten verschiedene Bundesstellen innerhalb der interdepartementalen Struktur zur Koordination der Migrationszusammenarbeit (IMZ-Struktur) eng zusammen.
Im Rahmen von bilateralen Treffen und der Umsetzung von gezielten Projekten wurde die Zusammenarbeit im Migrationsbereich mit prioritären Drittstaaten wie Algerien, dem Irak, der Türkei, Tunesien, Gambia, Côte d’Ivoire, Georgien, Nordmazedonien, dem Kosovo und Sri Lanka weiter gestärkt. Ein wichtiger Meilenstein stellte die Lancierung des ersten formellen Dialogs für Migrationsfragen mit Marokko dar.
Auf europäischer Ebene beteiligte sich die Schweiz aktiv an der Reform der europäischen Migrations- und Asylpolitik und der Vereinheitlichung des europäischen Grenzmanagements. Besonders geforderte Länder an der EU-Aussengrenze unter-stützte die Schweiz mit der Finanzierung von Projekten unter dem zweiten Schweizer Beitrag. Auf die 2022 mit Österreich und Deutschland vereinbarten Aktionspläne mit grenzpolizeilichen und migrationspolitischen Massnahmen folgte ein weiterer mit Frankreich.
Die globalen Herausforderungen können nur in Zusammenarbeit von Herkunfts-, Transit- und Zielländern gelöst werden. Deshalb richtete die Schweiz gemeinsam mit dem UNHCR zum zweiten Mal zur Umsetzung des globalen Paktes für Flüchtlinge das globale Flüchtlingsforum in Genf aus. An diesem wurden Massnahmen diskutiert, um den internationalen Schutz von Menschen auf der Flucht zu stärken, den Druck auf Aufnahmeländer zu verringern, die Selbstständigkeit von Flüchtlingen zu fördern und nachhaltige Lösungen wie Integration, namentlich Zugang zu Bildung und Arbeitsperspektiven, Rückkehr sowie Neuansiedlung zu ermöglichen.

2 Migrationskontext im Jahr 2023

In Europa wurden rund 1 250 000 Asylgesuche gestellt, dies ist eine Zunahme um rund 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die effektive Zahl der Personen, die in Europa ein Asylgesuch stellten, liegt jedoch tiefer, da Weiterwanderungen (Dublin-Fälle) sehr oft zu Mehrfacherfassungen führen. Die anhaltenden Krisen im Nahen Osten und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in der Türkei sowie in vielen Herkunftsländern in Nord- und Westafrika trugen zur Zunahme der Asylgesuche in Europa bei. Der Krieg in der Ukraine hatte weiterhin keine direkten Auswirkungen auf die Asylmigration; er hat jedoch zu einer Verschlechterung der Wirtschaftslage in vielen Herkunftsländern geführt und so zur Erhöhung des Abwanderungsdrucks beigetragen.
Ein prägender Faktor für die Gesuchsentwicklung in Europa war die zunehmende Migration aus der Türkei auf dem Seeweg (nach Griechenland) und dem Landweg (nach Bulgarien und Griechenland). Bei Personen, die mutmasslich über die Balkan-region reisten, war 2023 bei syrischen und türkischen Staatsangehörigen eine Zunahme festzustellen. Hingegen waren die Gesuche afghanischer Staatsangehöriger, die ebenfalls grossmehrheitlich diese Route nutzen dürften, rückläufig. Schliesslich waren sowohl eine deutliche Zunahme der Anlandungen in Süditalien als auch ein Anstieg von Asylgesuchen aus Lateinamerika zu verzeichnen.
In der Schweiz wurden 2023 insgesamt 30 223 Asylgesuche gestellt. Gegenüber 2022 bedeutet dies eine Zunahme um 23,3 Prozent. Der Anteil der Schweiz an allen in Europa gestellten Asylgesuchen lag im Jahr 2023 bei rund 2,4 Prozent und damit um 0,1 Prozent höher als 2022.
Einen Spezialfall stellten die rund 1800 Asylgesuche afghanischer Staatsangehöriger mit einem bestehenden Aufenthaltsstatus dar, die in der Folge der Praxisänderung für afghanische Frauen gestellt wurden. Diese Personen hielten sich zum Zeitpunkt ihrer Asylgesuchstellung schon lange in der Schweiz auf. Mit dieser Praxisänderung folgte die Schweiz, wie verschiedene andere europäische Staaten, einer Empfehlung der European Union Agency for Asylum (EUAA).
Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement hat per 1. April 2023 auf Empfehlung des Sonderstabs Asyl (SONAS) und in Absprache mit den Kantonen die Aufnahme von Flüchtlingsgruppen im Rahmen des Resettlement-Programms 2022-23 suspendiert, um der starken Belastung des Schweizer Asylsystems Rechnung zu tragen.
Die Schweiz ist als Zielland für viele Asylsuchende weiterhin von sekundärer Bedeutung. Die grosse Mehrheit der Personen, die 2023 vom Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit an der Südgrenze im Tessin respektive an der Ostgrenze im Rheintal angehalten wurden, wollte die Schweiz transitieren, meist in Richtung Deutschland oder Frankreich. Diese Personen stellten kein Asylgesuch in der Schweiz und reisten nach der Erfassung der Personendaten weiter.
Deutschland führte im Oktober wieder offiziell Binnengrenzkontrollen gegenüber mehreren Staaten, so auch der Schweiz, ein. Diese Massnahme wurde insbesondere mit verstärktem Vorgehen gegen Schlepper begründet; zweifellos spielten dabei aber auch innenpolitische Überlegungen eine Rolle. Die Kontrollen wurden vor allem im Raum Basel, allerdings ohne nennenswerte Auswirkungen im Grenzraum, punktuell verstärkt. Die Binnengrenzkontrollen führen zu einer Art Drehtüreffekt: Personen, die an der Grenze von Deutschland zurückgewiesen werden, stellen in der Schweiz in aller Regel kein Asylgesuch.
Wichtigste Migrationsrouten nach Europa
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Routen über das Mittelmeer östliche (Türkei-Griechenland) zentrale (primär Libyen-Italien) westliche (primär Marokko-Spanien)
See Land See See Land
2018 32 500 18 010 23 370 58 570 6 810
2019 59 730 14 890 11 470 26 170 6 350
2020 9 690 5 980 34 150 40 330 1 540
2021 4 110 4 690 67 480 41 980 1 220
2022 12 760 6 020 105 140 29 200 1 870
2023 41 480 7 080 157 650 57 070 470
Quelle: UNHCR
Asylgesuche in der Schweiz 1991 bis 2023
[Bild bitte in Originalquelle ansehen]
Quelle: SEM
Asylgesuche in der Schweiz - wichtigste Herkunftsstaaten 2023
¹
[Bild bitte in Originalquelle ansehen]
Quelle: SEM
¹ Dargestellt sind Erstgesuche, keine Familiennachzüge und Geburten. Schutzstatus-S-Anträge von aus der Ukraine geflüchteten Personen werden in dieser Statistik nicht berücksichtigt.

3 Schwerpunktregionen der schweizerischen Migrationsaussenpolitik

Die Schwerpunktregionen umfassen Europa und den Westbalkan, Nordafrika und den Mittleren Osten, Subsahara-Afrika sowie Zentral-, Süd- und Südostasien. Bei den Ländern dieser Regionen sind Flucht- und Migrationsthemen fester Bestandteil der politischen Dialoge; diese Themen werden in die verschiedenen Programme der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe aufgenommen.
Damit die Schweiz flexibel auf aktuelle migrationspolitische Herausforderungen und Opportunitäten reagieren kann, sind in der IZA-Strategie 2021-2024 sogenannte flexible Mittel reserviert. Diese werden von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit in Abstimmung mit der IMZ-Struktur, insbesondere unter Berücksichtigung von Vorschlägen des Staatssekretariats für Migration (SEM), in Ländern eingesetzt, die zwar keine Schwerpunktländer der IZA sind, sich aber innerhalb der vier IZA-Schwerpunktregionen befinden. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) kann mit Komplementärmassnahmen ausserhalb seiner IZA-Schwerpunktländer tätig werden; es bindet Ländervorschläge des SEM in diverse globale oder regionale Programme ein, welche die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verbessern, Arbeitsplätze schaffen oder das Unternehmertum fördern.
Auf europäischer Ebene beteiligt sich die Schweiz an der Schengen-/Dublin-Zusammenarbeit in den Bereichen Grenzschutz, Justiz, Polizei, Visa und Migration. Da die Herausforderungen von Flucht und irregulärer Migration regionenübergreifend auftreten, bringt sich die Schweiz auch ausserhalb Europas in multilateralen Dialogen ein.

3.1 Europa

Der Schengen-Raum steht seit einigen Jahren unter grossem Druck. Die von zahlreichen Staaten wieder eingeführten Kontrollen an den Binnengrenzen sind das sichtbarste Zeichen für die bestehenden Herausforderungen. Die Schweiz war insbesondere von der Entscheidung Deutschlands betroffen, ab dem 16. Oktober 2023 die Grenze zur Schweiz sowie zu Polen und Tschechien wieder zu kontrollieren. In der Praxis hatte diese Entscheidung im Jahr 2023 kaum Auswirkungen auf den Grenzverkehr. Auch der am 5. Dezember 2022 von Italien einseitig beschlossene Aufnahmestopp von Dublin-Überstellungen gegenüber allen Dublin-Mitgliedstaaten ist ein Symptom für Defizite des aktuellen Systems.
Die herausfordernde Situation hat im Berichtsjahr den Druck auf die EU-Staaten erhöht, Kompromisse bei der Reform der europäischen Migrations- und Asylpolitik einzugehen und zu einer Einigung zu gelangen. Unter der schwedischen und spanischen Ratspräsidentschaft setzte die EU die Diskussionen dazu fort. Im Dezember 2023 gelang nach jahrelanger Blockade ein Durchbruch und eine politische Einigung von Rat und Parlament zu den Eckwerten der Reform. Die wichtigsten Elemente sind die Einführung einer generellen Pflicht zum Screening irregulär eingereister Personen, die Einführung von Schnellverfahren an den Aussengrenzen für bestimmte Personen-gruppen sowie Regeln für den solidarischen Ausgleich von ungleich verteilten Lasten zwischen den Dublin-Staaten. Die beiden letzten Elemente sind für die Schweiz nicht verbindlich. Die Schweiz hat eine Reform stets befürwortet und begrüsst die 2023 erzielten Fortschritte. Insgesamt hat die Schweiz an sieben Sitzungen des Rats der Justiz- und Innenminister teilgenommen und ihre Interessen im Hinblick auf die Reform vertreten. Gelingt die Einigung, werden die Schengen/Dublin-relevanten Teile der Schweiz als Weiterentwicklungen des Schengen/Dublin-Besitzstands notifiziert.
Ein wichtiger Grund für die aktuellen Herausforderungen vieler europäischer Länder im Asylbereich ist die Aufnahme von aus der Ukraine geflüchteter Menschen. Die Schweiz hat seit Beginn des Krieges 97 971 Geflüchtete aufgenommen. Da eine nachhaltige Stabilisierung der Lage in der Ukraine vorerst nicht absehbar ist, beschloss der Bundesrat am 1. November 2023, den Schutzstatus S nicht vor dem 4. März 2025 aufzuheben. Es werden weitere Anstrengungen unternommen, die Arbeitsmarktintegration zu verbessern und den aus der Ukraine Geflüchteten - auch im Hinblick auf eine künftige Rückkehr in die Heimat - Möglichkeiten zu bieten, ihre Fähigkeiten zu erhalten und weiterzuentwickeln. Mit Unterstützung des SECO wurde im Berichtsjahr beispielsweise an der Berner Fachhochschule der Lehrgang «Certificate of Advanced Studies (CAS) Wiederaufbau Ukraine» durchgeführt. In diesem CAS lernten 30 aus der Ukraine geflüchtete Personen, den Wiederaufbau von Gebäuden und Infrastruktur zu beurteilen, mitzugestalten und zu leiten. Das erworbene Wissen können die Studierenden nach einer möglichen Rückkehr in die Ukraine bei konkreten Wiederaufbauprojekten einsetzen. Fragen zur Rückkehr der ukrainischen Geflüchteten hat das SEM im Sinne einer vorausschauenden Planung in Zusammenarbeit mit den Kantonen im Rahmen eines provisorischen Umsetzungskonzepts vertieft. Der Bundesrat hat dieses Konzept im August 2023 zur Kenntnis genommen. Es beinhaltet Empfehlungen zu Themen wie Ausreisefristen, Ausnahmeregelungen oder Rückkehrhilfe und soll als Grundlage für politische Entscheide und für ein koordiniertes Vorgehen aller involvierten Behörden dienen.
Im Rahmen ihrer Migrationsaussenpolitik konzentrierte die Schweiz ihre Unterstützung auf die Nachbarländer der Ukraine. Moldau nimmt an der Bevölkerung gemessen am meisten Geflüchtete aus der Ukraine auf. Aufgrund der erhörten Bedürfnisse hat die Schweiz ihr IZA-Programm in Moldau 2023 aufgestockt. Die Schweiz unter-stützte die moldauischen Behörden bei der Umsetzung der Schutzstatusverfahren und der Arbeitsmarktintegration. Darüber hinaus wurde der Zugang von Geflüchteten zu Gesundheitsdiensten und Unterkünften sowie die zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe von geflüchteten Frauen gestärkt.
Im Berichtsjahr konnten in der bilateralen Zusammenarbeit mit ausgewählten EU-Mitgliedstaaten im Rahmen des zweiten Schweizer Beitrags wichtige Resultate erzielt werden. So konnten alle ausstehenden bilateralen Abkommen unter dem Kohäsions-beitrag unterzeichnet werden. Insgesamt sollen bis 2029 in den Partnerländern Bulgarien, Estland, Litauen, Rumänien, Tschechien und Ungarn für über 40 Millionen Franken migrationsrelevante Programme umgesetzt werden - abhängig vom jeweiligen Programm in den Bereichen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Integration oder im Kampf gegen den Menschenhandel. Unter dem Rahmenkredit Migration (bilaterale Zusammenarbeit und flexible Mittel unter dem Rapid Response Fund) wurden 2023 in Griechenland, Italien, Spanien, Polen, Rumänien, Slowakei, Bulgarien und Ungarn Projekte in den Bereichen Asyl und Infrastruktur sowie freiwillige Rückkehr und Wiedereingliederung umgesetzt. Die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit Italien schritten 2023 wesentlich voran.
Ihre Verantwortung beim Schutz der Schengen-Aussengrenze nahm die Schweiz auch 2023 durch eine Beteiligung an den Aktivitäten der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) wahr. Sie setzte sich dabei für eine Harmonisierung und Professionalisierung der Grenzkontrollen sowie für die Einhaltung der Grundrechte ein. Die Schwerpunkte des Personaleinsatzes lagen in Griechenland, Bulgarien, Italien und Kroatien. Hingegen hat die Schweiz 2023 aufgrund der Heraus-forderungen im nationalen Asylwesen auf Experteneinsätze im Rahmen der EUAA verzichtet.
Sind die Staaten an den Schengen-Aussengrenzen aufgrund der Anzahl irregulärer Einreisen stark gefordert, nimmt gleichzeitig auch die Sekundärmigration im Schengenraum zu. Sie betrifft auch die Schweiz. Deshalb, und im Anschluss an die 2022 mit Österreich und Deutschland vereinbarten Aktionspläne, haben sich Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider und der französische Innenminister Gérald Darmanin auf einen gemeinsamen Aktionsplan mit grenzpolizeilichen und migrationspolitischen Massnahmen geeinigt. Wie bei den weiterhin fortgeführten Aktionsplänen mit Österreich und Deutschland besteht das Ziel darin, die bilaterale Zusammenarbeit zu stärken und die Sekundärmigration einzudämmen. Im Rückkehrbereich war die Zusammenarbeit mit Frontex auch 2023 wieder vorteilhaft für die Schweiz. So wurden 3 gemeinsame Rückführungsoperationen durchgeführt. Daneben hat sich die Schweiz mit den EU-Mitglieds- und den assoziierten Staaten intensiv ausgetauscht; das degressive Modell der Schweizer Rückkehrhilfe ab Bundesasylzentren stiess dabei auf grosses Interesse.
Die irreguläre Migration auf der Westbalkan-Route hat im Vergleich zum Vorjahr abgenommen, bleibt aber nach der Route über das zentrale Mittelmeer die zweitwichtigste Migrationsroute nach Europa und hatte auch Auswirkungen auf die Asylgesuchszahlen in der Schweiz.
Mit Nordmazedonien fand im Nachgang zur 2022 abgeschlossenen Migrationspartnerschaft ein erster Migrationsdialog statt. Ein weiterer Dialog fand mit dem Kosovo statt. Ein regelmässiger migrationspolitischer Austausch ist insbesondere auch nach dem Entscheid der EU, den Kosovo per 1. Januar 2024 von der Schengen-Visumpflicht zu befreien, relevant. Diese Befreiung gilt im Rahmen der Schengen-Assoziierung auch für die Schweiz.

3.2 Mittlerer Osten

Anhaltende politische Krisen, eine sich verschlechternde Wirtschafts- und Sicherheitslage, weiterhin zunehmende Nachfrage nach humanitärer Hilfe sowie eine zunehmend negative Rhetorik gegenüber Flüchtlingen prägen die Region. Der Konflikt im Nahen Osten hatte zudem gravierende humanitäre und politische Auswirkungen. Die Sicherheitslage und humanitäre Situation in Syrien verschlechterten sich weiter: In Syrien waren Ende 2023 gemäss der Vereinten Nationen über 15 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen - die höchste Zahl seit Beginn der Krise im Jahr 2011. Auch intensivierten sich die Kampfhandlungen gegen Ende des Jahres. Die Schweiz setzte 2023 ihre humanitäre Hilfe und ihre Bemühungen für eine politische Lösung fort. Diese Entwicklungen wirkten sich in Syrien, im Libanon, im Irak und in der Türkei auf die Migrationsbewegungen innerhalb der Länder, in die Nachbarstaaten und in Richtung Europa aus.
Nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien stellte die Schweiz umgehend finanzielle, personelle und materielle Erdbebenhilfe zur Verfügung. Zudem prüfte die Schweiz Visumsgesuche von Erdbebenopfern prioritär, um es betroffenen Personen zu ermöglichen, vorübergehend bei engen Verwandten in der Schweiz unterzukommen.
Im Libanon erhöhten die anhaltende politische Krise, die fehlenden Reformen und die desolate Wirtschaftslage die Vulnerabilität der Bevölkerung; durch diese Faktoren wurde die Negativrhetorik gegenüber den syrischen Flüchtlingen zusätzlich verschärft. Die Schweiz war deshalb bestrebt, bei den Projekten im Bildungs-, Wasser- und Nahrungsmittelbereich sowohl die lokale Bevölkerung als auch die Flüchtlinge miteinzubeziehen. Sowohl im Libanon als auch in Jordanien setzte sich die Schweiz für den Schutz der Geflüchteten und den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen ein sowie für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Migrantinnen und Migranten und deren Zugang zu konsularischem Schutz.
Mit dem Irak wurde die bilaterale Zusammenarbeit zu Migrationsfragen intensiviert. Die Rahmenbedingungen für die Rückkehr von weggewiesenen Personen konnten im Rahmen eines Migrationsdialogs erheblich verbessert werden. Ausserdem gelang es, Verhandlungen zu einer Migrationsvereinbarung zu lancieren.

3.3 Nordafrika

Der Migrationsdruck aus Nordafrika auf Europa, vor allem auf der zentralen Mittelmeerroute, hat im Berichtsjahr zugenommen. Die EU reagierte darauf mit dem Abschluss eines Abkommens mit Tunesien mit dem Ziel, die Anzahl der Überfahrten nach Europa zu verringern. Die Schweiz verzeichnete einen substanziellen Anstieg der Asylgesuche. Die nordafrikanischen Staaten sind als Herkunfts-, Transit- und Zielländer von irregulärer Migration stark gefordert und kämpften 2023 zusätzlich mit den Folgen schwerer Wirtschaftskrisen und Naturkatastrophen. Menschenrechtsverletzungen wie Refoulement von Asylsuchenden in grenznahe Wüstengebiete sowie eine zunehmend negative Rhetorik gegenüber Migrantinnen und Migranten haben deren Situation verschlechtert.
Die Migrationszusammenarbeit mit Algerien stand im Zeichen der Umsetzung der Massnahmen, die im Rahmen der sektoriellen Dialoge 2022 und 2023 in den Bereichen Migration, Justiz und Polizei ausgehandelt wurden.
Einen weiteren Meilenstein im Rahmen der bilateralen Aktivitäten der Schweiz stellte die Lancierung der ersten Ständigen Gemischten Arbeitsgruppe für Migrationsfragen mit Marokko dar. Die Stärkung der Migrationszusammenarbeit wirkte sich u.a. deutlich bei der Identifikation und Ausreisen von rückkehrpflichtigen Personen aus.
Mit Tunesien hat die Schweiz 2023 diverse Gespräche auf politischer und auf technischer Ebene geführt. Die Zusammenarbeit wurde in den Bereichen Grenzschutz sowie Unterstützung und Schutz von Geflüchteten vor Ort gestärkt.
In Ägypten, Erstaufnahmeland Tausender Geflüchteter infolge des bewaffneten Konflikts im Sudan, und in Libyen, wo sowohl die lokale Bevölkerung als auch zahlreiche Migrantinnen und Migranten von den Überschwemmungen von September 2023 betroffen waren, verstärkte die Schweiz ihre humanitäre Hilfe und den Flüchtlings-schutz vor Ort.
Auf regionaler Ebene setzte die Schweiz Projekte in den Bereichen Migrationsgouvernanz, Arbeitsmigration sowie Schutz, Bildung und sozioökonomische Integration von jungen Migrantinnen und Migranten zwischen Nordafrika und Subsahara-Afrika um.

3.4 Zentral- und Westafrika

Die sich verschlechternde Sicherheitslage in den Ländern der Sahelzone, insbesondere in Burkina Faso, Mali und Niger, die Nahrungsmittelkrise sowie die Folgen des Klimawandels führten 2023 zu einem Anstieg der regionalen Migrationsbewegungen und der irregulären Migration nach Europa. In diesen drei Ländern hat die Schweiz ihre Bemühungen zum Schutz von intern Vertriebenen sowie deren Zugang zu psychosozialer Unterstützung und Bildung verstärkt. Bei den neuen Projekten in Nigeria, Côte d’Ivoire, Guinea-Bissau und Ghana lagen die Schwerpunkte u.a. auf der Bekämpfung von Menschenhandel, der nachhaltigen Wiedereingliederung von rückkehrenden Personen und der Ausbildung lokaler Migrationsbehörden. Durch neue Projekte im Berufsausbildungsbereich sollen Alternativen zur irregulären Migration geschaffen werden. Schliesslich konnte 2023 die Zusammenarbeit mit Guinea-Bissau durch den Abschluss eines Migrationsabkommens formalisiert werden.

3.5 Horn von Afrika

Die politische, wirtschaftliche und humanitäre Lage am Horn von Afrika stand 2023 im Zeichen des Konfliktes im Sudan, der im April 2023 ausgebrochen ist. Die Zahl der intern Vertriebenen ist seither auf über 6 Millionen gestiegen, wovon mehr als die Hälfte Kinder sind. Eine Million Menschen flüchteten in die teils fragilen Nachbarländer vor allem in den Südsudan, nach Tschad, Ägypten, Äthiopien und in die Zentralafrikanische Republik. Die Schweiz verstärkte ihre humanitäre Hilfe für den Sudan und die Nachbarländer sowohl mit Finanzbeiträgen in der Höhe von 64 Millionen Franken als auch mit Einsätzen des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe mit Partnerorganisationen.
Die Migrationszusammenarbeit mit Eritrea wurde 2023 auf operationeller und diplomatischer Ebene im Rahmen des Möglichen fortgeführt, namentlich im Bereich der Identifizierung. Zwangsweise Rückführungen werden von Eritrea weiterhin generell nicht akzeptiert; dies gilt für alle europäischen Länder. Auf Projektebene setzte sich die Schweiz für die Schaffung von beruflichen Perspektiven vor Ort ein. Die für Eritrea zuständige Immigration Liaison Officer (ILO) in Khartum wurde anlässlich der vorübergehenden Schliessung der Botschaft evakuiert und war in der Folge von Bern aus für Eritrea zuständig.

3.6 Weitere prioritäre Länder und Regionen

Afghanistan und Nachbarstaaten
Nach wie vor verlassen im Nachgang zur Machtübernahme der Taliban zahlreiche Menschen das Land. In der Schweiz war Afghanistan 2023 das häufigste Herkunfts-land von Asylsuchenden. Mehrere Millionen Afghaninnen und Afghanen halten sich in Pakistan und im Iran auf. Der Iran ersuchte 2023 die Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft, um den Geflüchteten weiterhin Zugang zu Bildung und Gesundheitsdienstleistungen gewähren zu können. Die Schweiz engagierte sich im Berichtsjahr mit Hilfe vor Ort und unterstützte geflüchteten Afghaninnen und Afghanen im Iran und Pakistan. Die pakistanische Regierung begann mit der Umsetzung ihres Rückführungsplans von afghanischen Staatsangehörigen. Die Schweiz hat deshalb 2023 beschlossen, sich an den humanitären Bemühungen der UNO zugunsten der betroffenen Rückkehrenden zu beteiligen.
Die Schweiz stellte 2023 rund 30 Millionen Franken für humanitäre Hilfe in Afghanistan bereit. Zudem entsandte die Schweiz eine ILO nach Islamabad mit Zuständigkeit für Pakistan, Afghanistan und den Iran. Die ILO ist in erster Linie für die Beobachtung der Migrationssituation vor Ort zuständig und identifiziert und begleitet Projekte. Im Berichtsjahr hat die Schweiz zudem den Entscheid gefällt, ein humanitäres Büro (ohne konsularische Dienstleistungen) in Kabul, voraussichtlich bis Sommer 2024, zu eröffnen
Georgien
Basierend auf der 2022 abgeschlossenen Migrationspartnerschaft fand 2023 ein zweiter Migrationsdialog zwischen der Schweiz und Georgien statt. Im Zentrum der Gespräche standen die gute Zusammenarbeit im Rückkehrbereich und die Unterstützung durch Projekte. Letztere zielte im Berichtsjahr vorwiegend auf die nachhaltige Reintegration von Rückkehrenden in Georgien ab.
Sri Lanka
Die Schweiz pflegt mit Sri Lanka eine langjährige Migrationspartnerschaft und konnte 2023 im Rahmen eines Expertentreffens den konstruktiven Dialog fortführen. Nebst der langjährigen Unterstützung im Berufsbildungsbereich engagierte sich die Schweiz ein Jahr nach der schweren Wirtschafts- und Politikkrise bei den Reform- und Versöhnungsprozessen und der Förderung der Menschenrechte.
In Nepal und Bangladesch startete die Schweiz 2023 neue Projektphasen, unter anderem im Bereich der sicheren Arbeitsmigration. In Bangladesch, wo sich das weltweit grösste Flüchtlingslager befindet, setzte sich die Schweiz für den Schutz und nachhaltige Perspektiven für die geflüchteten Rohingya ein.

4 Multilaterale Migrationsaussenpolitik der Schweiz

4.1 Engagement der Schweiz am Global Refugee Forum

Erforderlich sind nebst den bilateralen Dialogen auch kollektive Antworten der Staatengemeinschaft zur Bekämpfung der Ursachen von Flucht und irregulärer Migration. Vor diesem Hintergrund übernahm die Schweiz 2023 erneut gemeinsam mit dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge die Rolle als Gastgeberin des zweiten Globalen Flüchtlingsforums in Genf. Dieses knüpfte an die erste Ausgabe im Jahr 2019 an. Seither hat sich die Zahl der Geflüchteten von 80 auf 120 Millionen erhöht. Angesichts der weltweiten Inflation und des bisher ungenügenden Anstiegs der finanziellen Beiträge bot das Forum eine wichtige Gelegenheit, die involvierten Akteure stärker zu mobilisieren. Staatssekretärin Christine Schraner Burgener eröffnete den Anlass mit dem UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi. Am Forum nahmen Delegationen aus 168 Staaten teil, davon 86 auf Ministerebene. Ebenfalls vertreten waren zahlreiche Geflüchtete sowie die Zivilgesellschaft, der Privatsektor und Lokalregierungen. Die Anwesenden tauschten Erfahrungen aus und lancierten neue gemeinsame Vorhaben zur Umsetzung des Globalen Paktes für Flüchtlinge. Dieser zielt auf eine angemessene Verteilung der Lasten und Verantwortungen in Flüchtlingsfragen ab.
Die Schwerpunktthemen des Forums, zu denen sich die Schweiz im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Ansatzes eingebracht hat, betrafen unter anderem den Zugang zur Bildung, die Bekämpfung von Menschenhandel, den Schutz von Frauen vor Gewalt sowie dauerhafte Lösungsansätze für Geflüchtete, darunter Rückkehrhilfe, Integration und Resettlement. Auch eine stärkere Mobilisierung von Ressourcen aus dem Privatsektor und die Auswirkungen des Klimawandels auf Fluchtbewegungen wurden thematisiert. Die Schweiz legte im Rahmen sogenannter «Pledges» zudem mehrere Ziele fest, die direkt zu den Schwerpunktthemen beitrugen, so etwa die Förderung einer sinnvollen Flüchtlingspartizipation in der Schweiz, die Erleichterung des Hochschulzugangs für Geflüchtete oder die gemeinsame Verbesserung der Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden in Griechenland. Die Schweiz hat angekündigt, in den Jahren 2024-2027 mit jährlich 300 Millionen Franken zur internationalen Umsetzung des Globalen Flüchtlingspakts beizutragen.

4.2 Globale Prozesse

Im April 2023 wurde die Bundesverwaltung von der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats beauftragt, bis Ende 2023 einen Bericht zu erstellen, der die bisherige Wirkung des UNO-Migrationspakts global und in einzelnen Ländern beleuchtet und erste Erkenntnisse für die Schweiz bei einer allfälligen Zustimmung identifiziert. Darin enthalten sollen insbesondere Erfahrungsberichte von Ländern sein, die mit der Schweiz vergleichbar sind. Die für diesen Bericht befragten Regierungen bestätigen, dass der UNO-Migrationspakt primär als Referenzrahmen und als Instrument der Migrationsaussenpolitik genutzt wird, womit die bilaterale, regionale und multilaterale Zusammenarbeit gestärkt und Migrationspartnerschaften gefördert werden. In Übereinstimmung mit der Botschaft des Bundesrates vom Februar 2021 kommt der Bericht zum Schluss, dass der UNO-Migrationspakt im Interesse der Schweiz liegt. 2023 hat sich die Schweiz weiterhin für einen kohärenten Politikdialog auf globaler Ebene im Bereich Binnenvertreibung eingesetzt und eine Finanzierung an den neuen Internal Displacement Solutions Fund gewährleistet.

4.3 Regionale Prozesse

Durch die Beteiligung an regionalen Prozessen fördert die Schweiz den Dialog zwischen den Herkunfts-, Transit- und Zielländern und vertieft gleichzeitig die bilateralen Beziehungen zu einzelnen Staaten. So organisierte die Schweiz im Rahmen des Rabat-Prozesses, einem intergouvernementalen Euro-Afrikanischen Migrationsdialog, zusammen mit Gambia ein thematisches Treffen zu vermissten Personen im Migrationskontext. Ziel des Treffens war es, den Wissensaustausch zwischen nationalen Behörden und internationalen Organisationen zu fördern, nützliche Instrumente zu ermitteln und die internationale Zusammenarbeit in dem Themengebiet zu stärken.
Schliesslich arbeitete die Schweiz im Bereich Migrationsgouvernanz mit der Intergovernmental Authority on Development (IGAD) zusammen, einer regionalen Organisation von Staaten im Horn von Afrika. Die Schweiz unterstützte IGAD mit einem finanziellen Beitrag und der Entsendung einer Schweizer Expertin darin, den regionalen Migrationsdialog, beispielsweise betreffend klimabedingte Migration, sowie Koordinationsmechanismen auf nationaler Ebene zu fördern.
Bundesrecht
Bericht des Bundesrates über die Aktivitäten der schweizerischen Migrationsaussenpolitik 2023
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