Video-Dokumentation von Vernehmungsinhalten im Ermittlungsverfahren
Video-Dokumentation von Vernehmungsinhalten im Ermittlungsverfahren
vom 19. Juli 2000 (JMBl/00, [Nr. 8], S.105)
I. Einleitung
Das am 1. Dezember 1998 in Kraft getretene Zeugenschutzgesetz eröffnet mit den neuen Bestimmungen der §§ 58 a, 168 e, 247 a und 255 a Strafprozessordnung (StPO) die Video-Aufzeichnung von Vernehmungsinhalten und deren Verwertung sowie die zeitgleiche Video-Übertragung von Vernehmungen innerhalb und außerhalb der Hauptverhandlung.
II. Voraussetzungen der Bild-Ton-Aufzeichnung im Ermittlungsverfahren
Unter welchen Voraussetzungen die Vernehmung eines Zeugen auf Bild-Ton-Träger aufgezeichnet werden „kann“ oder „soll“, regelt § 58 a Abs.
1 Satz 1 und 2 StPO. Die Entscheidung, ob im Einzelfall die Aufzeichnung einer Zeugenvernehmung auf Bild-Ton-Träger zweckmäßig und geboten ist, bedarf im Hinblick auf den mit der Bild-Ton-Aufzeichnung verbundenen erheblichen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Zeugen einerseits sowie die damit verbundene Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes andererseits einer sorgfältigen Abwägung der schutzwürdigen Interessen unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
Eine Video-Aufzeichnung ist nach § 58 a Abs. 1 Satz 1 StPO insbesondere in den Fällen in Betracht zu ziehen, in denen eine entscheidungserhebliche Aussage umfangreich ist, ein komplexes Tatgeschehen betrifft oder die Vernehmung sich besonders schwierig gestaltet. Von einer solchen Aufnahme ist dann abzusehen, wenn schutzwürdige Interessen des Zeugen der Aufzeichnung entgegenstehen. Aussagen sexuell missbrauchter Kinder sind aufzuzeichnen, sofern die Straftat nicht mit dem Einsatz von Videotechnik verknüpft ist und deshalb angenommen werden muss, dass die Bildaufzeichnung für den Betroffenen (Opfer-)Zeugen eine besondere Belastung darstellt.
Einer Interessenabwägung bedarf es auch in den Fällen des § 58 a Abs. 1 Satz 2 Nr.
1 und 2 StPO, in denen nach dem Gesetzeswortlaut die Aufzeichnung auf Bild-Ton-Träger erfolgen soll. Einschränkungen sind hier insbesondere bei jugendlichen Zeugen unter sechzehn Jahren zu machen. So wird in der Regel in den so genannten Alltagsfällen, etwa bei jugendlichen Opfern von Straßenverkehrsdelikten oder bei geringfügigen Straftaten im Jugendlichenmilieu, eine Bild-Ton-Aufzeichnung als unverhältnismäßig anzusehen sein. Zu beachten ist ferner, dass § 58 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StPO nur auf den unmittelbar verletzten Zeugen Anwendung findet.
Eine Bild-Ton-Aufzeichnung nach § 58 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StPO ist in den Fällen in Betracht zu ziehen, in denen aufgrund bestimmter Anhaltspunkte oder kriminalistischer Erfahrungen anzunehmen ist, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann. Solche Anhaltspunkte können sich aus dem Alter des Zeugen, seinem Gesundheitszustand oder etwa daraus ergeben, dass die Eltern eines kindlichen Zeugen ihr Kind aus berechtigter Sorge um dessen Wohl nicht in einer Hauptverhandlung aussagen lassen wollen. Auch bei gefährdeten Zeugen oder solchen, deren Rückkehr ins Ausland bevorsteht, ist die Notwendigkeit einer Bild-Ton-Aufzeichnung regelmäßig zu prüfen. Jedoch wird im Einzelfall eine Video-Dokumentation zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sein, wenn es sich lediglich um eine unbedeutende oder nebensächliche Aussage handelt und der Aufzeichnung der Zeugenaussage im Verhältnis zu einer möglichen Verlesung der Vernehmungsniederschrift ein erhöhter Beweiswert nicht beizumessen ist.
III. Anordnung der Bild-Ton-Aufzeichnung
Über die Vornahme einer Bild-Ton-Aufzeichnung entscheidet die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Sachleitungsbefugnis, bei Gefahr im Verzug ihre Hilfsbeamten (§ 152 Gerichtsverfassungsgesetz - GVG -). Ist sie noch nicht mit der Sache befasst und hält die ermittelnde Polizei die Aufzeichnung einer Zeugenvernehmung für geboten, legt sie die Vorgänge mit einer entsprechenden Anregung der Staatsanwaltschaft zur Entscheidung vor.
Sind die Voraussetzungen einer Bild-Ton-Aufzeichnung erfüllt (II.), prüft die Staatsanwaltschaft, ob im Hinblick auf die strafprozessuale Verwertbarkeit eine richterliche Vernehmung zu beantragen ist. Entsprechendes ist zu veranlassen, wenn die in Betracht kommende oder beabsichtigte Verwertung der Bild-Ton-Aufzeichnung in einer späteren Hauptverhandlung die richterliche Vernehmung des Zeugen voraussetzt (§ 255 a Abs. 1 i. V. m.
§ 251 Abs. 1, § 255 a Abs. 2 Satz 1 StPO).
Sofern es einer richterlichen Zeugenvernehmung nicht bedarf, führt die Staatsanwaltschaft die aufzuzeichnende Vernehmung selbst durch oder richtet ein entsprechendes Ersuchen an die ermittelnde Polizei. Die Staatsanwaltschaft erhält bei vorhandener Kapazität Unterstützung durch die Polizei, etwa durch Bereitstellen von Räumlichkeiten und der notwendigen Videotechnik.
Die Anordnung der Bild-Ton-Aufzeichnung ist aktenkundig zu machen.
IV. Durchführung der Bild-Ton-Aufzeichnung
Die Duldung der Bild-Ton-Aufzeichnung ist Bestandteil der Zeugenpflicht; eine besondere Einwilligung des zu Vernehmenden oder seines gesetzlichen Vertreters ist insoweit nicht erforderlich. Bei Zeugen, die das Zeugnis nach § 52 StPO verweigern können, ist jedoch erst mit der Bild-Ton-Aufnahme zu beginnen, nachdem der Zeuge über das Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden ist und er erklärt hat, das Recht nicht in Anspruch nehmen zu wollen.
Bei der Anfertigung der Bild-Ton-Aufzeichnung ist darauf zu achten, dass der Zeuge und die vernehmende Person gemeinsam und zeitgleich in Bild und Ton aufgenommen werden. Die Befragung des Zeugen ist klar und verständlich zu führen. Grundsätzlich ist jede Form der Beeinflussung des Aussageverhaltens ( z. B.
durch Suggestivfragen) zu vermeiden. Die Aufzeichnung der Vernehmung kindlicher Zeugen ist möglichst rücksichtsvoll und altersgerecht zu gestalten. Bei kindlichen Opferzeugen ist einer Vertrauensperson die Anwesenheit zu gestatten, wenn der Untersuchungszweck nicht gefährdet wird (§ 406 f Abs. 3 StPO, Nr. 19 a Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren - RiStBV -).
Über die Vernehmung ist auf der Grundlage der Bild-Ton-Aufzeichnung ein vollständiges Protokoll zu fertigen (§§ 168, 168 a, 168 b Abs. 2 StPO). Pausen und sonstige Unterbrechungen sind lückenlos zu dokumentieren.
V. Verwendung und Vernichtung der Bild-Ton-Aufzeichnung
Die von der Vernehmung eines Zeugen gefertigte Bild-Ton-Aufzeichnung darf nur zum Zwecke der Strafverfolgung verwendet werden, wenn dies zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. Die Verwendung ist nicht auf das Strafverfahren beschränkt, in dem die Bild-Ton-Aufzeichnung angefertigt worden ist, sondern kann darüber hinaus auch in anderen Strafverfahren erfolgen. In anderen Verfahren, etwa im Rahmen der zivilrechtlichen Verfolgung von Schadensersatzansprüchen, ist eine Verwendung dagegen nur mit Einverständnis des betroffenen Zeugen zulässig.
Die Bild-Ton-Aufzeichnung - einschließlich sämtlicher Kopien - ist unverzüglich zu löschen, wenn sie zur Strafverfolgung nicht mehr benötigt wird. Die Löschung oder Vernichtung erfolgt in der Regel nach dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens. Ausnahmsweise kann die Aufbewahrung auch über diesen Zeitpunkt hinaus erfolgen, etwa wenn Mittäter flüchtig sind oder mit einer Wiederaufnahme der Verfahrens zu rechnen ist. Die Staatsanwaltschaft prüft vor der Löschung, ob die an Verfahrensbeteiligte herausgegebenen Kopien vollständig zurückgegeben worden sind. Dem Zeugen, von dessen Vernehmung eine Bild-Ton-Aufzeichnung angefertigt wurde, ist auf seinen Wunsch hin eine Kopie zur Verfolgung berechtigter eigener Zwecke (z. B. Schadensersatz- oder Unterhaltsprozesse) zu belassen. Die Löschung der Videoaufzeichnung erfolgt unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft; über die Löschung ist eine Niederschrift anzufertigen (§ 100 b Abs. 6 StPO).
VI. In-Kraft-Treten
Der Gemeinsame Runderlass tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft.
Potsdam, den 19. Juli 2000
Der Minister der Justiz und für Europaangelegenheiten Der Minister des Innern
Prof.
Dr.
Kurt Schelter Jörg Schönbohm
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