Staatsvertrag zwischen der Schweiz, Deutschland und Italien betreffend die Gott... (0.742.140.11)
CH - Schweizer Bundesrecht

Staatsvertrag zwischen der Schweiz, Deutschland und Italien betreffend die Gotthardbahn 2

Abgeschlossen am 13. Oktober 1909 Von der Bundesversammlung genehmigt am 9. April 1913³ Ratifikationsurkunden ausgetauscht am 4. Oktober 1913 In Kraft gesetzt am 1. Mai 1910 mit Rückwirkung auf den 1. Mai 1909 ¹ Der Originaltext findet sich unter der gleichen Nummer in der französischen Ausgabe dieser Sammlung. ² Siehe auch das Übereink. vom 13. Okt. 1909 zwischen der Schweiz und Italien betreffend die Gotthardbahn ( SR 0.742.140.111 ). ³ Ziff. 1 des BB vom 9. April 1913 ( AS 29 347 ).
Der Bundesrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Seine Majestät der Deutsche Kaiser, König von Preussen, im Namen des Deutschen Reiches, und Seine Majestät der König von Italien,
von dem Wunsche geleitet, aus Anlass der am 1. Mai 1909 erfolgten Verstaatlichung der Gotthardbahn durch die Schweiz die gegenseitigen, diese Eisenbahn betreffenden Beziehungen neu zu regeln, haben den Abschluss eines neuen Vertrages beschlossen und zu diesem Zwecke zu Bevollmächtigten ernannt:
(Es folgen die Namen der Bevollmächtigten)
die nach Austausch ihrer in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten sich über folgende Punkte geeinigt haben:
Art. 1 ⁴
Die nachbezeichneten, zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz über die Gotthardbahn abgeschlossenen Verträge, nämlich:
1. der Vertrag zwischen Italien und der Schweiz, abgeschlossen in Bern am 15. Oktober 1869⁵;
2. der Vertrag zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz, abgeschlossen in Berlin am 28. Oktober 1871⁶;
3. der Zusatzvertrag zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz, abgeschlossen in Bern am 12. März 1878⁷;
4. der Vertrag zwischen Italien und der Schweiz wegen des Baus einer Eisen­bahn über den Monte Ceneri, abgeschlossen in Bern am 16. Juni 1879⁸,
werden durch den gegenwärtigen Vertrag ersetzt.
⁴ Siehe auch Ziff. 1 des Schlussprot. hiernach.
⁵ [AS X 555]
⁶ [AS X 583]
⁷ [ AS 4 169 ]
⁸ [ AS 4 352 ]
Art. 2
Die Schweiz wird die erforderlichen Anordnungen treffen, damit der Betrieb der Gotthardbahn⁹ in allen Beziehungen den Anforderungen entspricht, die man an eine grosse internationale Linie zu stellen berechtigt ist.
⁹ Für den Begriff «Gotthardbahn» in diesem Staatsvertrag siehe Ziff. III des Schlussprot. hiernach.
Art. 3
Von den Fällen höherer Gewalt abgesehen, wird die Schweiz den Betrieb der Gotthardbahn gegen jede Unterbrechung sicherstellen. Die Schweiz hat jedoch das Recht, die zur Aufrechterhaltung ihrer Neutralität und zur Verteidigung ihres Landes nötigen Massnahmen zu treffen.
Art. 4
Die hohen vertragschliessenden Teile verpflichten sich im gemeinsamen Interesse, den Verkehr zwischen Deutschland und Italien tunlichst zu erleichtern und zu diesem Zwecke die Beförderung der Reisenden, Güter und Postsachen auf der Gotthardbahn so regelmässig, so bequem, so schnell und so billig wie möglich einzurichten.
Art. 5
Die Schweiz wird die erforderlichen Anordnungen treffen, damit die Züge der Schweizerischen Bundesbahnen, soweit als möglich, ohne Unterbrechung an die Züge der deutschen und italienischen Bahnen anschliessen.
Art. 6
Die Schweiz wird mit den deutschen und italienischen Bahnen auch in Zukunft einen direkten (kumulativen) Verkehr im Durchgang über den Gotthard unterhalten.
Art. 7
Der Verkehr über die Gotthardbahn soll stets die gleichen Grundtaxen und die gleichen Vorteile geniessen, die von den Schweizerischen Bundesbahnen irgend­einer anderen, bereits bestehenden oder künftig zu bauenden Alpenbahn bewilligt sind oder noch bewilligt werden.
Art. 8
Hinsichtlich der Beförderung von Personen und Gütern aus Deutschland und Italien nach diesen beiden Ländern und durch diese beiden Länder verpflichtet sich die Schweiz, dafür zu sorgen, dass die Schweizerischen Bundesbahnen den deutschen und den italienischen Eisenbahnen mindestens die gleichen Vorteile und Erleichterungen zuteil werden lassen, die sie, sei es anderen Eisenbahnen ausserhalb der Schweiz, sei es irgendwelchen Strecken und Stationen dieser Bahnen, sei es schliess­lich den schweizerischen Grenzstationen gewähren sollten. Die Schweizerischen Bundesbahnen dürfen in keine Verbindung mit anderen schweizerischen Eisenbahnen eintreten, durch die dieser Grundsatz verletzt werden würde.¹⁰
¹⁰ Siehe hierzu auch Ziff. I des Schlussprot. hiernach.
Art. 9
Ausgenommen von den Vorschriften der Artikel 7 und 8 sind die Fälle, in denen die Schweizerischen Bundesbahnen infolge des ausländischen Wettbewerbes genötigt sind, ihre Transittaxen ausnahmsweise herabzusetzen.
Jedoch dürfen Massnahmen dieser Art dem Verkehr über den St. Gotthard keinen Abbruch tun.
Art. 10 ¹¹
Für den im Durchgang über die Gotthardbahn sich bewegenden Personenverkehr werden folgende Höchstsätze festgesetzt:

In

I. Klasse

10,416 Rappen für den Kilometer

in

II. Klasse

  7,291 Rappen für den Kilometer

in

III. Klasse

  5,208 Rappen für den Kilometer

Die Schweizerischen Bundesbahnen dürfen einen Zuschlag von 50 % für solche Teilstrecken erheben, die eine Steigung von 15 ‰ und mehr haben. Jedoch wird auf der Monte Ceneri-Linie der Personenverkehr auch in Zukunft von einem Zuschlag befreit bleiben.
Im Gepäckverkehr dürfen die zur Zeit im Durchgang über die Gotthardbahn gültigen Taxen und Zuschlagstaxen in Zukunft nicht erhöht werden.
¹¹ Siehe jedoch das Abk. vom 30. April 1940 zwischen der Schweiz und Italien betreffend die Gotthardbahn ( SR 0.742.140.112 ).
Art. 11 ¹²
Die Schweiz verpflichtet sich für die Schweizerischen Bundesbahnen, die gegenwärtig für den deutschen und italienischen Güterverkehr, im Durchgang über die Gotthardbahn, bestehenden Transittaxen in Zukunft so lange nicht zu erhöhen, als die deutschen oder italienischen Eisenbahnen ihre gegenwärtig für diese Verkehre bestehenden Taxen nicht erhöhen. Vorbehalten bleibt jedoch infolge der Herabsetzung der Bergzuschläge eine Neuregelung der ausnahmsweise ermässigten, durch den ausländischen Wettbewerb bedingten Transittaxen.
Die Schweiz übernimmt die gleiche Verpflichtung hinsichtlich der Transittaxen, die gegenwärtig für den direkten italienisch-schweizerischen Verkehr im Durchgang über die Gotthardbahn bestehen.
¹² Siehe auch Ziff. I des Schlussprot. hiernach.
Art. 12
Für den Güterverkehr, der sich im Durchgang über die Gotthardbahn bewegt (d. i. über die Endpunkte Immensee, Zug oder Luzern einerseits und Chiasso oder Pino andererseits), bewilligt die Schweiz eine Herabsetzung der zur Zeit geltenden Bergzuschläge in der Weise, dass die gegenwärtig bestehenden Zuschläge von 64 km für Erstfeld–Chiasso und von 50 km für Erstfeld–Pino ermässigt werden:
um 35 % vom 1. Mai 1910 an,
das heisst
auf 42 km für die Strecke Erstfeld–Chiasso,
auf 33 km für die Strecke Erstfeld–Pino;
um 50 % vom 1. Mai 1920 an¹³,
das heisst
auf 32 km für die Strecke Erstfeld–Chiasso,
auf 25 km für die Strecke Erstfeld–Pino.
Wenn infolge gegenwärtig nicht vorauszusehender Ereignisse – z.B. infolge eines Ausfuhrverbotes für Brennstoffe durch einen kohlenerzeugenden Staat oder infolge einer aussergewöhnlichen Steigerung der Kohlenpreise – die vorstehend vereinbarte Herabsetzung der Bergzuschläge zur Folge haben sollte, dass das gegenwärtige Netz der Gotthardbahn nicht mehr die Betriebskosten, einschliesslich der Verzinsung und Amortisation des in diesem Netze angelegten Anlagekapitals und der vorgeschriebenen Rücklagen in den Erneuerungsfonds, aufbringt, so wird die Schweiz berechtigt sein, eine Abänderung der obigen Vereinbarungen über die Herabsetzung der Bergzuschläge zu verlangen.
Eine hiernach zugestandene Wiedererhöhung der Bergzuschläge ist aufzuheben, sobald ihre Ursache beseitigt ist. Auch dürfen höhere als die zur Zeit bestehenden Zuschläge nie eingeführt werden.
Bei Wiedererhöhung der Zuschläge hat die Schweiz auf das Meistbegünstigungsrecht Rücksicht zu nehmen, das die Gotthardbahn gegenüber den anderen Alpenbahnen (Art. 7), und der Verkehr zwischen Deutschland und Italien und umgekehrt gegenüber den anderen Verkehren (Art. 8) geniessen.
¹³ Diese Ermässigung ist erst am 1. Jan. 1926 in Kraft getreten, nachdem sie durch verschiedene Abk. wiederholt hinausgeschoben worden war.
Art. 13
Falls unter den hohen vertragschliessenden Teilen Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung oder Anwendung des gegenwärtigen Vertrages entstehen sollten, hat jeder von ihnen das Recht, schiedsgerichtliche Entscheidung zu verlangen.
Die Bildung des Schiedsgerichts und das Verfahren vor demselben sollen so einfach als möglich sein. Über die Ernennung des Schiedsrichters werden sich die beteiligten Regierungen auf diplomatischem Wege verständigen.
Gelangen sie zu keiner Verständigung, so ist die Regierung eines unbeteiligten Staates um diese Ernennung zu ersuchen.
Art. 14
Der gegenwärtige Vertrag soll ratifiziert werden; der Austausch der Ratifikations­urkunden soll sobald als möglich in Bern stattfinden.
Der Vertrag soll am 1. Mai 1910 in Kraft treten mit Rückwirkung auf 1. Mai 1909.

Unterschriften

Zu Urkund dessen haben die Bevollmächtigten den gegenwärtigen Vertrag unterzeichnet und ihre Siegel beigedrückt.
So geschehen zu Bern, in dreifacher Ausfertigung, den 13. Oktober 1909.
(Es folgen die Unterschriften)

Schlussprotokoll

Die Unterzeichneten sind zusammengetreten, um den neuen Vertrag betreffend die Gotthardbahn, über dessen Inhalt sie sich heute geeinigt haben, nochmals zu lesen und zu unterzeichnen. Bei dieser Gelegenheit sind in dem gegenwärtigen Schlussprotokoll die nachstehenden Erklärungen niedergelegt worden, die die gleiche Kraft besitzen und an dem gleichen Tage in Wirksamkeit treten sollen wie der Vertrag selbst.
I.
Zu Art. 1
Es besteht Einverständnis darüber, dass die nachstehenden Verträge in Kraft bleiben:
1. Der Staatsvertrag zwischen Italien und der Schweiz, abgeschlossen in Bern am 23. Dezember 1873¹⁴ betreffend die Verbindung der Gotthardbahn mit den italienischen Bahnen bis Chiasso und Pino;
2. die Übereinkunft zwischen Italien und der Schweiz, abgeschlossen in Bern am 16. Februar 1881¹⁵ über den Polizeidienst in den internationalen Bahn­höfen der Gotthardbahn;
3. die Übereinkunft zwischen Italien und der Schweiz, abgeschlossen in Bern am 15. Dezember 1882¹⁶ über den Zolldienst in den internationalen Bahn­höfen Chiasso und Luino.
An Stelle der in diesen Verträgen genannten Eisenbahngesellschaften treten künftig die Schweizerischen Bundesbahnen und die Italienischen Staatseisenbahnen.
Zu Art. 8
Der zweite Satz des Artikels 8: «Die Schweizerischen Bundesbahnen dürfen in keine Verbindung mit anderen schweizerischen Eisenbahnen eintreten, durch die dieser Grundsatz verletzt werden würde» soll nur besagen, dass die Schweizerischen Bundesbahnen mit anderen schweizerischen Eisenbahnen in keine Verbindung eintreten dürfen, durch die sie auf ihren Strecken niedrigere Grundtaxen gewähren würden als die, welche für den Durchgangsverkehr über den Gotthard zur Anwendung gelangen.
Zu Art. 11
Es besteht Einverständnis darüber:
1. dass die dort vorgesehenen Erhöhungen sich nur auf Waren der nämlichen Art erstrecken dürfen;
2. dass die Schweizerischen Bundesbahnen berechtigt sind, ihre Transittaxen zu erhöhen, wenn die Erhöhungen in Deutschland oder Italien Artikel ihrer Ausfuhr betreffen,
3. dass für die übrigen Fälle eine Verständigung zwischen den Schweizerischen Bundesbahnen und den deutschen oder den italienischen Bahnen vorbehalten bleibt.
II.
Die Schweizerischen Bundesbahnen werden mit Wirkung vom 1. Mai 1910 an die jetzigen oder künftigen Transittaxen für den Güterverkehr über den Gotthard in der Weise zur Verfügung stellen, dass diese Taxen für alle schweizerischen Grenzstationen anwendbar sind, auch wenn letztere nicht auf dem kürzesten Wege gelegen sind.
Diese den Wechselverkehr zwischen Deutschland und Italien betreffende Bestimmung hat besondere Bedeutung für diejenigen Sendungen, für die der kürzeste Weg über den Bodensee führt, während die billigste Fracht sich über den Landweg bildet.
III.
Unter der Bezeichnung Gotthardbahn sind in dem Vertrage folgende Eisenbahn­linien zu verstehen:
1. Luzern–Immensee–Arth–Goldau–Giubiasco–Chiasso,
2. Zug–Arth–Goldau,
3. Giubiasco–Cadenazzo–Pino Grenze,
4. Cadenazzo–Locarno.
IV.
Für den Fall, dass aus Anlass einer späteren Elektrifizierung der Gotthardbahn Materialbestellungen notwendig werden, erklärt die Schweiz, dass die Schweizerischen Bundesbahnen in Ansehung dieser Lieferungen an ihrer bisherigen Übung festhalten und einen allgemeinen, der Industrie aller Länder zugänglichen Wett­bewerb eröffnen werden.
Hinsichtlich der sonstigen Materialbestellungen für die Gotthardbahn erklärt die Schweiz, nicht die Absicht zu haben, in dem derzeitigen Verfahren der Schweizerischen Bundesbahnen eine Änderung eintreten zu lassen.
V.
In Erfüllung eines von der deutschen und der italienischen Regierung ausgesprochenen Wunsches erklärt die Schweiz, die Angestellten und Arbeiter deutscher und italienischer Staatsangehörigkeit, die aus Anlass der Verstaatlichung der Gotthardbahn aus dem Dienst der Gotthardbahngeselischaft in den Dienst der Schweizerischen Bundesbahnen übergetreten sind, nach Massgabe der hierüber bestehenden gesetzlichen Bestimmungen in ihren Stellungen belassen zu wollen, ohne sie zu verpflichten, die schweizerische Staatsangehörigkeit anzunehmen.
So geschehen zu Bern, in dreifacher Ausfertigung, den 13. Oktober 1909.
(Es folgen die Unterschriften)
¹⁴ SR 0.742.140.12
¹⁵ SR 0.742.140.13
¹⁶ SR 0.631.252.945.43
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