Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Italien betreffend die Verbindung der Gotthardbahn mit den italienischen Bahnen bei Chiasso und Pino
Abgeschlossen am 23. Dezember 1873 Von der Bundesversammlung genehmigt am 27. Januar 1874² Ratifikationsurkunden ausgetauscht am 14. Februar. 1874 ¹ Der Originaltext findet sich unter der gleichen Nummer in der französischen Ausgabe dieser Sammlung. ² Ziff. 1 des BB vom 27. Jan. 1874 (AS XI 476)
Der Bundesrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft und Seine Majestät der König von Italien,
in der Absicht, die Durchführung des internationalen Vertrages vom 15. Oktober 1869³ betreffend den Bau und Betrieb einer Gotthardeisenbahn, soweit es hauptsächlich die Verbindung des schweizerischen mit dem italienischen Bahnnetze und die Errichtung internationaler Stationen betrifft, zu ordnen, haben zu diesem Zwecke Bevollmächtigte ernannt, nämlich:
(Es folgen die Namen der Bevollmächtigten)
welche, nachdem sie sich ihre Vollmachten mitgeteilt und dieselben in guter und gehöriger Form befunden, folgende Artikel vereinbart haben:
³ [AS X 555. SR 0.742.140.11 Art. 1 Ziff. 1]. Heute: des Staatsvertrages vom 13. Okt. 1909 zwischen der Schweiz, Deutschland und Italien betreffend die Gotthardbahn ( SR 0.742.140.11 ).
Art. 1
Die Verbindung der Gotthardbahn mit dem italienischen Bahnnetz an der Grenze bei Chiasso findet auf der Bahnstrecke statt, welche von Chiasso durch den Monte Olimpino nach Como geht. Die Schienenhöhe am Anschlusspunkte soll 239,130 Meter über Meer oder 5,296 Meter über dem am obern Rande des Postaments des Grenzsteins westlich der Poststrasse angebrachten Fixpunkte betragen. Die für eine zweispurige Linie projektierte Bahnachse soll die Richtung einhalten, welche sowohl auf dem Terrain als auf dem beiliegenden beiderseitig unterzeichneten Plane A⁴ angegeben ist.
Die zwischen den innern Rändern der Schienen gemessene Spurweite soll am Anschlusspunkt 1,445 Meter und die Entfernung der beiden Geleise, im Falle einer doppelspurigen Bahn, zwischen den innern Rändern der nächsten Schienen gemessen 2,100 Meter, mithin die Entfernung von Mitte zu Mitte der beiden Geleise 3,545 Meter betragen.
Die beiden Gesellschaften, denen der Bau der Strecken Lugano–Chiasso und Chiasso–Camerlata obliegt, haben sich in kürzester Frist und unter Vorbehalt der Zustimmung der respektiven Regierungen über die Konstruktionsdetails des Bahnkörpers am Anschlusspunkt zu verständigen.
⁴ Dieser Plan wurde in der AS nicht veröffentlicht.
Art. 2
Der Punkt an der Grenze bei Pino, wo der Anschluss der Gotthardbahn an das italienische Bahnnetz auf dem linken Ufer des Langensees stattfinden wird, soll, sobald die Vorstudien hinreichend fortgeschritten sind, festgesetzt werden.⁵
Immerhin ist schon jetzt vereinbart, dass sowohl die Spurweite als die Entfernung der Geleise, im Falle einer zweispurigen Bahn, bei diesem Anschlusspunkt gleich sein soll wie diejenige, welche für den Anschluss bei Chiasso festgesetzt wurde.
Die italienische Bahn auf dem linken Ufer des Langensees soll gleichzeitig mit dem Tunnel von Göschenen nach Airolo vollendet und in Betrieb gesetzt werden.
⁵ Siehe das Prot. vom 5. Febr. 1880 ( SR 0.742.140.121 ).
Art. 3
Es soll für jede der beiden Linien Bellinzona–Chiasso–Camerlata und Bellinzona–Pino–Luino eine internationale Station errichtet werden, um darin den Zoll‑⁶, Post-, Telegrafen-, Polizei-⁷ und Gesundheitspolizeidienst der beiden Staaten zu vereinigen.
Diese Stationen werden in Chiasso und Luino erstellt.
⁶ Für den Zolldienst siehe das Übereink. vom 15. Dez. 1882 ( SR 0.631.252.945.43 ).
⁷ Für den Polizeidienst siehe die Übereink. vom 16. Febr. 1881 ( SR 0.742.140.13 ) und die Erkl. vom 11. Nov. 1884/12. Jan. 1885 ( SR 0.742.140.131 ).
Art. 4
Die in jeder der beiden internationalen Stationen sowie zwischen diesen Stationen und der Grenze von den beiden interessierten Regierungen für die genannten Dienstzweige als notwendig erkannten Lokale und Räumlichkeiten sind von den respektiven Bahngesellschaften⁸ unentgeltlich zur Verfügung zustellen.
Sofern ausser diesen Dienstlokalitäten auch noch Wohnungen für das Personal besagter Dienstzweige erforderlich sein sollten, so sind die genannten Bahngesellschaften ebenfalls zu deren Herstellung verpflichtet, dagegen aber zum Bezuge eines jährlichen Mietzinses von 5 % des hierfür gemachten Kapitalaufwandes sowie zum Ersatz der entsprechenden Grundsteuer berechtigt.
Die Kosten der innern Einrichtung, des Unterhalts, der Beleuchtung und Reinigung sind von den diese Lokalitäten benutzenden Verwaltungen zu tragen.
⁸ Heute: Schweizerische Bundesbahnen bzw. Italienische Staatsbahnen (Ziff. I ad Art. 1 des Schlussprot. zum Staatsvertrag vom 13. Okt. 1909 – SR 0.742.140.11 ).
Art. 5
Die Bedingungen, unter welchen der Betrieb auf den gemeinsamen Stationen zur Ausführung kommen soll, der Wechsel der Lokomotiven und die Mitbenutzung von Bahnstrecken und Stationen der einen Bahngesellschaft durch die andere, sollen durch eine besondere Vereinbarung der respektiven Bahnverwaltungen geregelt werden. Diese Vereinbarung ist den beiden Regierungen zur Genehmigung vorzulegen, und zwar bezüglich der Linie Lugano–Camerlata spätestens den 1. Juni 1874 und bezüglich der Linie auf dem linken Ufer des Langensees spätestens ein Jahr vor der Eröffnung derselben.
In Ermangelung einer Verständigung unter den beiden Bahngesellschaften werden die beiden Regierungen die Bedingungen des gemeinsamen Betriebes festsetzen.
Art. 6
Der Betrieb soll in der Weise organisiert werden, dass auf der Strecke zwischen der Grenze und der internationalen Station weder ein Wechsel der Wagen für die Reisenden noch ein Umladen der Güter stattfindet.
Das für den durchgehenden Verkehr bestimmte Betriebsmaterial soll so konstruiert werden, dass es ohne Schwierigkeit von einem Bahnnetz auf das andere übergehen kann.⁹
Unmittelbar nach erfolgter Ratifikation des gegenwärtigen Vertrages werden die beiden Regierungen die erforderlichen Mitteilungen über die wesentlichen Dimensionen des zu diesem Verkehr bestimmten Betriebsmaterials austauschen.
Die von einer der kontrahierenden Regierungen hinsichtlich ihrer Betriebsfähigkeit geprüften Lokomotiven und Wagen sollen ungehindert auf die im Gebiete des andern Staates liegenden Linien übergehen können.¹⁰
⁹ Die Schweiz und Italien sind der «Technischen Einheit im Eisenbahnwesen» beigetreten (V vom 16. Dez. 1938 – SR 742.141.3 ).
¹⁰ Die Schweiz und Italien sind der «Technischen Einheit im Eisenbahnwesen» beigetreten (V vom 16. Dez. 1938 – SR 742.141.3 ).
Art. 7
Die periodischen Abänderungen in den Fahrtenplänen, Winter‑ und Sommerdienst, sind möglichst gleichzeitig mit denen anderer influierender Bahnen festzusetzen und in Ausführung zu bringen.
Falls während der Dauer eines Dienstes Änderungen in der Fahrtordnung notwendig werden sollten, so sind dieselben sobald als möglich vor ihrem Inkrafttreten den beiden Regierungen mitzuteilen.
Art. 8
Die volle Landeshoheit bleibt jeder Regierung für die auf ihrem Gebiete befindlichen Bahnstrecken vorbehalten.
Die Bahnbetriebspolizei wird unter Aufsicht der dazu in jedem Staatsgebiete kompetenten Behörde und in Gemässheit der daselbst gültigen allgemeinen Vorschriften durch die Bahnangestellten ausgeübt.
Art. 9
Das gesamte Bahnpersonal steht unter den Gesetzen und Polizeiverordnungen desjenigen Staates, in welchem es sich befindet.
Personen, welche wegen gemeiner Verbrechen oder Vergehen verurteilt worden sind, dürfen weder auf den internationalen Stationen noch auf den Bahnstrecken desjenigen Staates, dem sie nicht angehören, Verwendung finden.
Art. 10
Die zollamtliche Abfertigung seitens der Verwaltungen der beiden Staaten findet ausschliesslich auf den internationalen Stationen statt.
Dabei soll bezüglich der Passagiereffekten und des Reisegepäcks jede nach den bestehenden Gesetzen zulässige Erleichterung und Vereinfachung eintreten.
Die nähern Formalitäten sollen zwischen den Zollverwaltungen der beiden Staaten, der Betriebseröffnung vorgängig, durch eine besondere Vereinbarung geregelt werden.¹¹
¹¹ Siehe SR 0.631.252.945.43
Art. 11
Den betreffenden Zollbehörden steht es frei, die Züge von der internationalen Station bis zur nächsten Haltstation jenseits der Grenze durch Zollbedienstete begleiten zu lassen.
Die Eisenbahnverwaltungen sind verpflichtet, für dieses Personal die erforderlichen Unterkunftslokale auf den Haltstationen zur Verfügung zu stellen, demselben auf jedem Zuge Plätze einzuräumen, von welchen aus der ganze Zug übersehen werden kann, endlich den von der Begleitung zurückkehrenden Bediensteten die unentgeltliche Rückfahrt zu gewähren, und zwar den Zollbeamten in einem Wagen II. Klasse und den Zollwächtern, sofern sie nicht Offiziersrang bekleiden, in einem Wagen III. Klasse.
Art. 12
Von der Königlich Italienischen Regierung wird zugestanden, dass die schweizerischen Fahrpostsendungen, welche nach Mailand oder weiter zu gehen bestimmt sind, an der Grenze, beziehungsweise auf der internationalen Station, nicht zollamtlich behandelt werden müssen, sondern unter Verbleiung ohne weitere Formalität bis Mailand spediert und erst auf dortigem Zollamt abgefertigt werden können.
Das gleiche Verfahren wird seitens des Schweizerischen Bundesrates für die italienischen nach Lugano, Bellinzona oder weiter gehenden Fahrpostsendungen bewilligt werden.
Ähnliche Bestimmungen sollen später für die Linie Bellinzona–Luino und deren Fortsetzung gegen Genua und Turin zur Anwendung kommen.
Art. 13
Die gegenseitigen Beziehungen der beiden Postverwaltungen, sowohl betreffend den Dienst auf den Büros der internationalen Stationen als denjenigen der auf den betreffenden Linien fahrenden Bahnpostbüros, sollen durch besondere Verständigung unter denselben geregelt werden,
Art. 14
Die Verwaltung der Gotthardbahn ist berechtigt, für den Bahndienst auf der Strecke von der Schweizergrenze bei Pino bis zur internationalen Station Luino eine Telegrafenleitung anzulegen und auf dieser Station sowohl als auf den allfälligen Zwischenstationen besondere Telegrafenapparate aufzustellen.
Die gleiche Berechtigung wird der Verwaltung der oberitalienischen Bahnen zugesichert für die Anlage einer Telegrafenleitung von der Schweizergrenze bei Chiasso bis zur internationalen Station Chiasso und die Aufstellung eines besondern Apparates auf dieser Station.
Die nähern Details des Telegrafendienstes sollen durch eine besondere Vereinbarung zwischen den Telegrafenverwaltungen der beiden Staaten geregelt werden.
Art. 15
Die zwischen der Grenze und einer internationalen Station liegenden und den Eisenbahnen gehörenden Grundstücke und Gebäulichkeiten sind nur den Steuern desjenigen Landes, in welchem sie sich befinden, unterworfen. Diese Bestimmung bezieht sich auch auf die Besteuerung des Betriebs auf derselben Bahnstrecke.
Die auf der Station Chiasso beschäftigten italienischen Angestellten sollen von jeder direkten und persönlichen Steuer in der Schweiz befreit sein, ebenso sollen die auf der Station Luino beschäftigten schweizerischen Angestellten die gleiche Steuerbefreiung in Italien geniessen.
Art. 16
Der gegenwärtige Vertrag soll ratifiziert werden, und es sind die Ratifikationen baldmöglichst in Bern auszuwechseln.
Unterschriften
Zu Urkund dessen haben die Bevollmächtigten den Vertrag unterschrieben und besiegelt.
So geschehen in Bern, in doppelter Ausfertigung, den 23. Dezember 1873.
Scherer | Melegari |
Protokoll
Die Unterzeichneten, hiezu durch ihre betreffenden Regierungen gehörig bevollmächtigt, erklären, dass vereinbart worden ist, es solle der Spezialvertrag, der im Artikel 5 der zwischen der Schweiz und Italien über Anschluss der Gotthardbahn an die Italienischen Eisenbahnen bei Chiasso und Pino abgeschlossenen und am 23. Dezember 1873 unterzeichneten Übereinkunft erwähnt ist, in den beiden dort vorgesehenen Fällen mit den Plänen, Zeichnungen und anderen Urkunden, die darauf Bezug haben können, begleitet sein.
Bern, den 12. Februar 1874
Scherer | Melegari |
Feedback