Übereinkunft zwischen der Schweiz und Italien über den Polizeidienst in den internationalen Stationen der Gotthardbahn
Abgeschlossen am 16. Februar 1881 Von der Bundesversammlung genehmigt am 14. Juni 1881² Ratifikationsurkunden ausgetauscht am 20. September 1881 In Kraft getreten am 1. August 1882 ¹ Der Originaltext findet sich unter der gleichen Nummer in der französischen Ausgabe dieser Sammlung. ² AS 5 576
Der Bundesrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft und Seine Majestät der König von Italien,
nach genommener Kenntnis von der Übereinkunft, welche, in Ausführung der im Artikel 3 des Staatsvertrages vom 23. Dezember 1873³ zwischen der Schweiz und Italien betreffend die Verbindung der Gotthardbahn mit den italienischen Bahnen bei Chiasso und Pino niedergelegten Bestimmungen, unterm 23. Juni 1880 zwischen:
(Es folgen die Namen der Delegierten)
in Locarno vereinbart wurde,
in der Absicht, dieser Übereinkunft die Form und den Wert eines Staatsvertrages zu verleihen,
haben zu ihren Bevollmächtigten ernannt:
(Es folgen die Namen der Bevollmächtigten)
welche, nach gegenseitiger Mitteilung ihrer in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten, folgende Artikel vereinbart haben:
³ SR 0.742.140.12
Art. 1
Der Polizeidienst in den internationalen Stationen Chiasso und Luino wird je nach Bedürfnis, im Einverständnis oder gleichzeitig von den beidseitigen Regierungen besorgt, welchen die volle Landeshoheit für die auf ihrem Gebiete befindlichen Bahnstrecken vorbehalten wird.
Art. 2 ⁴
Die Bahngesellschaften sind gehalten, in den Stationen die von den beiden Regierungen für die Ausübung dieses Dienstzweiges als notwendig erkannten Büros unentgeltlich zur Verfügung zu stellen.
⁴ Siehe hiezu auch Art. 4 des Staatsvertrages vom 23. Dez. 1873 ( SR 0.742.140.12 ).
Art. 3
Die Handhabung der Bahnpolizei und diejenige des Bahnbetriebs im ganzen Umfange der Station Chiasso liegt den Angestellten der Gotthardbahngesellschaft, in Luino dem Personal der italienischen Eisenbahnen ob, unter Aufsicht der in jedem Staatsgebiete kompetenten Behörde. Die Dienst‑ und Disziplinargewalt über das in den beiden Stationen zur Verwendung kommende Personal wird mit den Bahnverwaltungen geregelt. Im übrigen stehen sämtliche Beamte, Bedienstete und Arbeiter unter den Gesetzen und Verordnungen desjenigen Staates, in welchem sie sich befinden. Bei allfälliger Verhaftung eines Angestellten soll jedoch, wenn ein Verzug keinerlei Gefahr mit sich bringt, auf die Erfordernisse des Dienstes, beziehungsweise die Ersetzung des Betroffenen, billige Rücksicht genommen und die Betriebsdirektion sofort von der Verfügung in Kenntnis gesetzt werden.
Art. 4
Alle Formalitäten der Pass‑ und Fremdenpolizei sollen in den beiden Stationen Chiasso und Luino vorgenommen werden, und zwar so, dass sie keinen besondern Aufenthalt der Reisenden veranlassen.
Diejenigen Reisenden, welche vermittelst der Gotthardbahn und ihrer Anschlusslinien durch einen der beiden Staaten ohne Aufenthalt transitieren, dürfen während ihres Verweilens in den internationalen Stationen, sofern sie deren Gebiet nicht verlassen, keiner Passkontrolle unterzogen werden.
Art. 5
Die Polizeibeamten der beiden Staaten werden im Innern der Stationen diejenigen Individuen übernehmen und sich gegenseitig übergeben, welche aus einem der beiden Länder verwiesen werden oder deren Auslieferung auf berechtigtes Begehren hin bewilligt wurde. In gleicher Weise werden sie gegenüber denjenigen Individuen verfahren, welche ihnen von einem andern Staate behufs Übergabe an die Schweiz oder Italien, oder Auslieferung an eine fremde Regierung zugeführt werden.
Fremde Vaganten, welche behufs Instradierung in ihre angebliche Heimat durch einen der zwei Staaten transportiert werden müssen, werden nur unter der Bedingung abgenommen, dass der abschiebende Staat die Transportkosten trägt, und dass er die wegen Nichtangehörigkeit oder aus irgendeinem andern Grunde zurückgewiesenen Individuen wieder aufnimmt.
Bettler, welche im Bereiche der internationalen Stationen oder zwischen denselben und der Grenze aufgegriffen werden, können ohne weitere Förmlichkeiten in ihr Land zurückgeführt werden.
Art. 6 ⁵
Mit den abzuliefernden Individuen (ausgenommen oben bezeichnete Bettler) haben die schweizerischen Polizeibehörden den italienischen, beziehungsweise diese jenen, einen Transportbefehl zu übergeben, dessen Formular nach Genehmigung dieser Übereinkunft festzustellen ist. In diesem Transportbefehl muss genau angegeben sein:
1. das Signalement des Ausgelieferten;
2. der Grund seiner Auslieferung (AngabederVerbrechenoderVergehen),
3. die Behörde, an welche er ausgeliefert werden soll;
4. Ort, Tag und Stunde der Auslieferung.
Wenn die Polizei der die Auslieferung bewilligenden Regierung hinsichtlich eines Arrestanten spezielle Vorsichtsmassregeln als notwendig erachtet, so soll dies durch eine besondere Bemerkung im Transportbefehl angezeigt werden.
⁵ Für die Ausführungsbestimmungen siehe die Erkl. vom 11. Nov. 1884/12. Jan. 1885 ( SR 0.742.140.131 ).
Art. 7
Wenn ein von der schweizerischen Behörde der italienischen oder von letzterer der schweizerischen Behörde zum Transport abgeliefertes Individuum von den Beamten, an die es abgeliefert werden soll, aus irgendeinem Grunde nicht angenommen wird, so ist dasselbe an diejenige Grenzbehörde zurückzuführen, von welcher der Transportbefehl ausgegangen ist, und diese ist verpflichtet, das Individuum wieder anzunehmen und dem andern Staate alle Kosten für Hin‑ und Rücktransport zu vergüten.
Art. 8
Wenn in Chiasso die italienischen oder in Luino die schweizerischen Polizeiangestellten ausgeschriebene Verbrecher entdecken, so sollen sie sofort denjenigen des andern Staates hievon Kenntnis geben, um sie in den Stand zu setzen, zur Verhaftung zu schreiten.
Art. 9
Der Transport von Individuen, welche in Chiasso der italienischen oder in Luino der schweizerischen Polizei übergeben werden, findet von der betreffenden Station aus bis an die Landesgrenze durch diejenigen Agenten statt, an welche die Überlieferung erfolgt ist. Die schweizerische bzw. italienische Polizeibehörde ist berechtigt, das Geleite bis zur Grenze zu beaufsichtigen, und soll, falls ihre Unterstützung von den Beamten des andern Staates verlangt wird, dieselbe angedeihen lassen.
Art. 10
Wenn es das öffentliche Interesse erheischen sollte, so kann jede der beiden Regierungen verlangen, dass die Polizeiorgane des andern Staates zeitweise jedwelche Tätigkeit einstellen und auf das Gebiet des eigenen Landes sich zurückziehen. Von solchen Verfügungen werden die beiden Regierungen sich gegenseitig unverzügliche Mitteilung machen.
Art. 11
Für die gegenwärtige Übereinkunft wird die Genehmigung vorbehalten, und es sollen die Ratifikationen in Bern sofort nach Erfüllung der vorgeschriebenen Formalitäten ausgewechselt werden.
Der Zeitpunkt des Inkrafttretens derselben wird im Protokoll über die Auswechslung der Ratifikation festgesetzt werden.
Jeder der beiden kontrahierenden Staaten hat das Recht, diesen Vertrag auf ein Jahr zu kündigen.
Unterschriften
Zu Urkund dessen haben die Bevollmächtigten die gegenwärtige Übereinkunft unterzeichnet und derselben ihr Wappensiegel beigedrückt.
So geschehen in Bern, in doppelter Ausfertigung, den 16. Februar 1881.
Bavier | Melegari |
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