Niederlassungsvertrag zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem D... (0.142.111.361)
CH - Schweizer Bundesrecht

Niederlassungsvertrag zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Deutschen Reiche

Abgeschlossen am 13. November 1909 Von der Bundesversammlung genehmigt am 23. Juni 1911² Ratifikationsurkunden ausgetauscht am 1. August 1911 In Kraft getreten am 1. Oktober 1911 ¹ BS 11 615; BBl 1911 I 263 IV 153 ² AS 27 679
Der Schweizerische Bundesrat, im Namen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, und Seine Majestät der Deutsche Kaiser, König von Preussen, im Namen des Deutschen Reiches,
von dem Wunsche geleitet, die Bestimmungen des zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Deutschen Reiche bestehenden Niederlassungsvertrages vom 31. Mai 1890³ in verschiedenen Punkten zu verbessern und zu ergänzen,
sind übereingekommen, zu diesem Zwecke einen neuen Niederlassungsvertrag abzuschliessen, und haben zu Ihren Bevollmächtigten ernannt:
(Es folgen die Namen der Bevollmächtigten)
welche, nach gegenseitiger Mitteilung ihrer in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten, sich über folgende Artikel geeinigt haben:
³ [ AS 11 515 ]
Art. 1
Die Angehörigen jedes vertragschliessenden Teiles sollen berechtigt sein, sich in dem Gebiete des anderen Teiles ständig niederzulassen oder dauernd oder zeitweilig aufzuhalten, wenn und solange sie die dortigen Gesetze und Polizeiverordnungen befolgen.
Um dieses Recht beanspruchen zu können, müssen sie mit einem gültigen Heimatscheine versehen sein.
Die beiden Teile werden sich gegenseitig mitteilen, welche Behörden zur Ausstellung der Heimatscheine und zur Anerkennung der Staatsangehörigkeit zuständig sind.
Art. 2
Durch die Bestimmungen des Artikels 1 wird nicht berührt das Recht jedes vertragschliessenden Teiles, Angehörigen des andern Teiles die Niederlassung oder den Aufenthalt zu untersagen, sei es infolge eines strafgerichtlichen Urteils, sei es aus Gründen der inneren oder äusseren Sicherheit des Staates, sei es aus sonstigen polizeilichen Gründen, insbesondere aus Gründen der Gesundheits‑, Sitten‑ oder Armenpolizei.
Art. 3
Jeder vertragschliessende Teil behält sich vor, den Angehörigen des anderen Teiles, die ihm früher angehört und die Staatsangehörigkeit vor Erfüllung ihrer militärischen Pflichten verloren haben, die Niederlassung oder den Aufenthalt zu unter­sagen. Jedoch soll von der Ausübung dieser Befugnis abgesehen werden, wenn sich bei der Prüfung der Verhältnisse ergibt, dass der Wechsel der Staatsangehörigkeit in gutem Glauben und nicht zur Umgehung der militärischen Pflichten herbeigeführt ist.
Art. 4
Die Angehörigen jedes vertragschliessenden Teiles, die sich in dem Gebiete des anderen Teiles niedergelassen haben oder aufhalten, bleiben den Gesetzen ihres Heimatlandes über die Militärpflicht oder die an deren Stelle tretende Ersatzleistung unterworfen und können in dem anderen Lande weder zu persönlichem Militärdienst irgendwelcher Art noch zu einer Ersatzleistung angehalten werden.
Art. 5
Im Falle eines Krieges oder einer Enteignung zum öffentlichen Nutzen sollen in Ansehung der Entschädigung die Angehörigen jedes vertragschliessenden Teiles, die sich in dem Gebiete des anderen Teiles niedergelassen haben oder aufhalten, den Landesangehörigen gleichgestellt werden.
Art. 6 ⁴
Jeder vertragschliessende Teil verpflichtet sich, dafür zu sorgen, dass in seinem Gebiete den hilfsbedürftigen Angehörigen des anderen Teiles die erforderliche Verpflegung und Krankenfürsorge nach den am Aufenthaltsorte für die eigenen Angehörigen geltenden Grundsätzen zuteil werde, bis ihre Rückkehr in die Heimat ohne Nachteil für ihre und anderer Gesundheit geschehen kann.
Ein Ersatz der durch die Verpflegung, die Krankenfürsorge oder die Beerdigung solcher Personen erwachsenen Kosten kann gegenüber dem Teile, dem der Hilfs­bedürftige angehört, oder gegenüber den öffentlichen Verbänden oder Kassen dieses Teiles nicht beansprucht werden.
Für den Fall, dass der Hilfsbedürftige selbst oder dass andere privatrechtlich Verpflichtete zum Ersatze der Kosten imstande sind, bleiben die Ansprüche an diese vorbehalten. Auch sichern sich die beiden Teile die nach der Landesgesetzgebung zulässige Hilfe zur Geltendmachung dieser Ansprüche zu.
⁴ Siehe auch die Vereinb. vom 14. Juli 1952 zwischen der Schweizerischen Eidgenos­sen­schaft und der Bundesrepublik Deutschland über die Fürsorge für Hilfsbedürftige ( SR 0.854.913.61 /.611 ) und den Vertrag vom 19. März 1943 zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich über die Regelung der Fürsorge für alleinstehende Frauen ( SR 0.854.913.62 ).
Art. 7
Die Angehörigen jedes vertragschliessenden Teiles, die sich in dem Gebiete des anderen Teiles niedergelassen haben oder aufhalten und gemäss Artikel 2 oder 3 ausgewiesen werden, sind mit ihrer Familie auf Verlangen des ausweisenden Teiles jederzeit in ihr Heimatland wieder zu übernehmen.
Das gleiche gilt für frühere Angehörige jedes Teiles, solange sie nicht Angehörige des anderen Teiles oder eines dritten Staates geworden sind.
Mit dem Ausgewiesenen sind seine Ehefrau und die in seiner häuslichen Gemeinschaft lebenden minderjährigen Kinder auch dann zu übernehmen, wenn sie dem übernehmenden Teile weder angehören noch früher angehört haben, aber nicht Angehörige des anderen Teiles oder eines dritten Staates geworden sind.
Art. 8
In den Fällen des Artikels 7 entscheidet der ausweisende Teil, ob die in den Artikeln 2 oder 3 vorgesehenen Voraussetzungen der Ausweisung vorliegen.
Art. 9
Ist auf Grund eines Heimatscheins die Niederlassung gewährt worden, so kann der Staat, von dessen Behörden der Schein ausgestellt war, ein Verlangen auf Über­nahme nicht unter Berufung darauf ablehnen, dass der Inhaber und seine in dem Scheine aufgeführten Familienmitglieder die beurkundete Staatsangehörigkeit zur Zeit der Beurkundung nicht besessen haben.
Art. 10
Eine zwangsweise Überführung auszuweisender Personen in das Gebiet des anderen Teiles darf nur auf Grund eines Übernahmeverfahrens (Artikel 11–16) erfolgen.
Art. 11
Die Überführung von Personen, die gemäss Artikel 2 oder 3 ausgewiesen werden, soll auf Grund eines unmittelbaren Schriftwechsels zwischen der die Ausweisung (Heimschaffung) anordnenden Behörde und der zur Anerkennung der Staatsangehörigkeit zuständigen Heimatbehörde des zu Übernehmenden erfolgen.
Nach Anerkennung der Übernahmepflicht und vorgängiger rechtzeitiger Benachrichtigung werden die Ausgewiesenen gegen Aushändigung der Urschrift oder einer beglaubigten Abschrift des die Übernahmepflicht anerkennenden Schriftstücks von der zuständigen Grenzbehörde des Heimatlandes übernommen.
Art. 12
Ein vorgängiger Schriftwechsel ist nicht erforderlich, und es soll die auszuweisende Person von den Grenzbehörden ohne weitere Förmlichkeit übernommen werden, wenn sie mit einem gültigen Heimatschein oder mit andern gültigen durch Notenaustausch der beiden Teile näher zu bestimmenden Papieren versehen ist oder wenn ihre gegenwärtige oder frühere Staatsangehörigkeit nach dem Ermessen der übernehmenden Grenzbehörde sonst unzweifelhaft feststeht.
Die Bestimmungen des Absatzes 1 finden keine Anwendung, wenn es sich um die Übernahme einer wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit hilf­losen Person oder um die Übernahme einzelstehender Frauen mit Kindern handelt. In diesen Fällen behält es bei den Bestimmungen des Artikels 11 sein Bewenden.
Art. 13
Eine diplomatische Vermittlung findet nur dann statt, wenn entweder besondere Gründe den unmittelbaren Schriftwechsel untunlich erscheinen lassen, insbesondere wenn über die Heimatbehörde Ungewissheit besteht oder in sprachlicher Hinsicht der gegenseitigen Verständigung Hindernisse sich entgegenstellen, oder wenn durch den unmittelbaren Schriftwechsel die Anerkennung der Übernahmepflicht nicht erzielt worden ist und der ausweisende Teil sich hierbei nicht beruhigen will, oder wenn die Entscheidung der Stelle, welche die auszuweisende Person übernommen hat, von der Regierung des Heimatstaates nicht gebilligt wird.
Art. 14
Über die bei der Übernahme einzuhaltenden Regeln, insbesondere über die Grenzstrecken und die Grenzorte, wo die Übernahme stattzufinden hat, werden sich die beiden vertragschliessenden Teile durch Notenaustausch verständigen.
Art. 15
Beide Teile verpflichten sich, ihre Behörden anzuweisen, alle Übernahmeanträge mit möglichster Beschleunigung zu erledigen, auch einander bei Feststellung der Staatsangehörigkeit der auszuweisenden Personen nach Möglichkeit zu unterstützen.
Die Übernahme darf nicht aus dem Grunde verweigert oder verzögert werden, weil unter den Behörden des Heimatlandes über den Unterstützungswohnsitz oder die Gemeindeangehörigkeit des Auszuweisenden Zweifel bestehen.
Art. 16
Die Kosten der Beförderung auszuweisender Personen bis zum Übernahmeort werden von dem ausweisenden Teile getragen. Die Bestimmungen des Artikels 6, Absatz 3, finden entsprechende Anwendung.
Art. 17 ⁵
Jeder vertragschliessende Teil ist berechtigt, Angehörige des anderen Teiles, denen er gemäss Artikel 2 oder 3 die Niederlassung oder den Aufenthalt untersagen kann, oder Personen, die keinem der beiden Teile angehören, ohne das in den Artikeln 11–16 vorgesehene Übernahmeverfahren unverzüglich in das Gebiet des anderen Teiles zurückzuschaffen, wenn sie aus diesem Gebiete mit der Eisenbahn oder mit einer Schiffslinie unmittelbar in sein Gebiet gelangt sind und auf der ersten Haltestation sofort nach ihrem Eintreffen angehalten werden.
⁵ Siehe auch die Erklärung vom 15. Okt. 1916 betreffend Rückübernahme schriftenloser Personen ( SR 0.142.111.361.1 ) und das Abk. vom 25.Okt. 1954 über die Übernahme von Personen an der Grenze ( SR 0.142.111.369 ).
Art. 18
Jeder vertragschliessende Teil verpflichtet sich, Personen, die wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit hilflos sind und keinem der beiden Teile angehören oder früher angehört haben, nach vorgängigem Übernahmeverfahren zu übernehmen, wenn diese vorher in seinem Gebiet infolge ihres Zustandes in einer Anstalt verwahrt werden mussten und während der Verwahrung nach dem Gebiete des anderen Teiles entwichen sind. Diese Verpflichtung besteht jedoch nur für den Fall, dass der Antrag auf Übernahme innerhalb sechs Monaten nach der Entweichung gestellt wird.
Art. 19
Jeder vertragschliessende Teil verpflichtet sich, Angehörige oder frühere Angehörige eines dritten Staates, die sich in dem Gebiete des anderen Teiles aufhalten und dort ausgewiesen werden sollen, auf Antrag dieses Teiles durch sein Gebiet nach ihrem Heimatlande zu befördern, wenn der Antrag die Erklärung enthält, dass der andere Teil zum Ersatze der durch die Beförderung entstehenden Kosten und der dritte Staat zur Übernahme der auszuweisenden Person bereit ist.
Durch die Bestimmungen des Absatzes 1 werden die Bestimmungen des Auslieferungsvertrags zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reiche vom 24. Januar 1874⁶ wegen der Durchlieferung nicht berührt.
⁶ [BS 12 85]. Ersetzt durch das Europäische Auslieferungsübereink. vom 13. Dez. 1957 ( SR 0.353.1 ) und den Vertrag vom 13. Nov. 1969 zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland über die Ergänzung des Europäischen Auslieferung­s­übereink. vom 13. Dez. 1957 ( SR 0.353.913.61 ).
Art. 20
Dieser Vertrag findet keine Anwendung auf die Schutzgebiete des Deutschen Reiches.
Art. 21
Dieser Vertrag soll ratifiziert und die Ratifikationsurkunden sollen sobald als möglich ausgetauscht werden.
Der Vertrag tritt an die Stelle des Niederlassungsvertrages zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Deutschen Reiche vom 31. Mai 1890⁷ und der dazu getroffenen Vereinbarungen.
Er tritt in Kraft zwei Monate nach Austausch der Ratifikationsurkunden und gilt für die Dauer von fünf Jahren.
Falls keiner der vertragschliessenden Teile ein Jahr vor dem Ablaufe des fünfjährigen Zeitraumes den Vertrag kündigt, bleibt dieser in Geltung bis zum Ablauf eines Jahres von dem Tage an, an dem er von einem der beiden Teile gekündigt wird⁸.
⁷ [ AS 11 515 ]
⁸ Der Vertrag wurde von der Schweiz auf den 10. April 1920 gekündigt, gilt aber nun gemäss Vereinbarung als stillschweigend für jeweils sechs Monate erneuert ( BBl 1920 II 62 f.).

Unterschriften

Zu Urkund dessen haben die Bevollmächtigten diesen Vertrag unterzeichnet und mit ihren Siegeln versehen.
Ausgefertigt in doppelter Urschrift, in Bern, am dreizehnten November neunzehnhundertneun.

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