Vertrag zwischen der Schweiz und Finnland zur Erledigung von Streitigkeiten im Vergleichs- und Gerichtsverfahren
Abgeschlossen am 16. November 1927 Von der Bundesversammlung genehmigt am 23. März 1928³ Ratifikationsurkunden ausgetauscht am 11. Juni 1928 In Kraft getreten am 11. Juni 1928 ¹ BS 11 280; BBl 1928 I 37 ² Der Originaltext findet sich unter der gleichen Nummer in der französischen Ausgabe dieser Sammlung. ³ AS 44 397
Der Schweizerische Bundesrat und der Präsident der Republik Finnland,
geleitet von dem Wunsche, die zwischen der Schweiz und Finnland bestehenden freundschaftlichen Bande zu festigen und im Interesse des allgemeinen Friedens die Entwicklung des auf die internationalen Streitigkeiten angewandten Vergleichsund Gerichtsverfahrens zu begünstigen,
entschlossen, in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern den durch die Resolution des Völkerbundes vom 22. September 1922 betreffend Einsetzung zwischenstaatlicher Vergleichskommissionen eingeführten Grundsätzen eine möglichst ausgedehnte Anwendung zu geben,
sind übereingekommen, zu diesem Zweck einen Vertrag abzuschliessen, und haben zu ihren Bevollmächtigten ernannt:
(Es folgen die Namen der Bevollmächtigten)
die, nachdem sie sich ihre Vollmachten mitgeteilt und sie in guter und gehöriger Form befunden haben, über folgende Bestimmungen übereingekommen sind:
Art. 1
Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich, alle Streitigkeiten irgendwelcher Natur, die sich zwischen ihnen erheben sollten und die auf diplomatischem Wege nicht haben beigelegt werden können, vorgängig jedem gerichtlichen Verfahren, einem Vergleichsverfahren zu unterwerfen.
Es steht jeder der vertragschliessenden Parteien zu, den Zeitpunkt zu bestimmen, von dem an das Vergleichsverfahren an die Stelle der diplomatischen Verhandlungen treten kann.
Die Streitigkeiten, für deren Beilegung eine besondere Gerichtsbarkeit durch andere zwischen den vertragschliessenden Parteien in Kraft stehende Verpflichtungen vorgesehen ist, werden jedoch direkt bei dem entsprechenden Gericht anhängig gemacht.
Art. 2
Handelt es sich um eine Streitigkeit, die nach der Gesetzgebung einer der Parteien in die Zuständigkeit einer Gerichtsbehörde fällt, so kann die belangte Partei es ablehnen, dass die Streitigkeit einem Vergleichsverfahren und gegebenenfalls einem Gerichtsverfahren unterworfen werde, solange sie nicht den Gegenstand einer definitiven Entscheidung dieser Gerichtsbehörde gebildet hat. Falls die klägerische Partei diese Gerichtsentscheidung anzufechten gedenkt, so muss die Streitigkeit spätestens ein Jahr nach dieser Entscheidung dem Vergleichsverfahren unterworfen werden.
Art. 3
Binnen sechs Monaten nach Austausch der Ratifikationsurkunden des gegenwärtigen Vertrages bilden die vertragschliessenden Teile eine ständige Vergleichskommission von fünf Mitgliedern.
Die Parteien ernennen, jede für sich, nach freier Wahl je ein Mitglied und berufen die drei übrigen Mitglieder im gemeinsamen Einverständnisse. Diese drei Mitglieder sollen nicht Angehörige der vertragschliessenden Staaten sein, noch sollen sie auf deren Gebiet ihren Wohnsitz haben oder in deren Dienste stehen.
Aus der Mitte der gemeinschaftlich zu berufenden Mitglieder wird der Präsident der Kommission im gemeinsamen Einverständnisse ernannt.
Die Kommissionsmitglieder werden für drei Jahre ernannt. Unter Vorbehalt eines entgegenstehenden Einverständnisses der Parteien können die gemeinsam berufenen Mitglieder nicht während der Dauer ihres Mandates abberufen werden.
Art. 4
Im Falle von Ableben oder Rücktritt eines der Mitglieder der Vergleichskommission ist seine Ersetzung für den Rest der Dauer seines Mandates vorzunehmen, wenn möglich innert der drei folgenden Monate und jedenfalls, sobald ein Streitfall der Kommission unterbreitet wird.
Falls eines der gemeinsam durch die vertragschliessenden Teile berufenen Mitglieder der Vergleichskommission zeitweise durch Krankheit oder irgendwelchen andern Umstand verhindert sein sollte, an den Arbeiten der Kommission teilzunehmen, kommen die Parteien überein, einen Stellvertreter zu bezeichnen, der vorübergehend dessen Platz einnehmen wird. Wenn die Ernennung dieses Stellvertreters nicht binnen drei Monaten nach dem zeitweiligen Freiwerden des Sitzes erfolgt, so wird gemäss Artikel 5 des gegenwärtigen Vertrages verfahren.
Wenn beim Ablaufe des Mandates eines Mitgliedes der Kommission dessen Ersetzung nicht vorgenommen wird, so gilt sein Mandat für einen Zeitabschnitt von drei Jahren als erneuert; die Parteien behalten sich jedoch vor, das Amt des Präsidenten beim Ablaufe der dreijährigen Frist einem andern der im gemeinsamen Einverständnis ernannten Kommissionsmitglieder zu übertragen.
Ein Mitglied, dessen Mandat während der Dauer eines Verfahrens erlischt, nimmt weiterhin an der Prüfung des Streitfalles teil bis zur Beendigung des Verfahrens, auch wenn sein Nachfolger bezeichnet worden ist.
Art. 5
Findet die Ernennung der gemeinsam zu bezeichnenden Mitglieder der Vergleichskommission oder des Präsidenten innerhalb der vorgesehenen Frist von sechs Monaten oder, im Falle einer Ersatzwahl, innerhalb dreier Monate nach Freiwerden des Sitzes nicht statt, so erfolgen die Ernennungen, auf Ersuchen einer Partei, durch den Präsidenten des Ständigen Internationalen Gerichtshofes⁴ oder, wenn dieser Angehöriger eines der vertragschliessenden Staaten ist, durch den Vizepräsidenten oder, wenn dieser sich in derselben Lage befindet, durch das älteste Mitglied des Gerichtshofes.
⁴ Der Ständige Internationale Gerichtshof wurde aufgelöst durch Beschluss der Völkerbundsversammlung vorn 18. April 1946 ( BBl 1946 II 1227 ) und ersetzt durch den Internationalen Gerichtshof ( SR 0.193.50 ).
Art. 6
Innerhalb eines Zeitraumes von vierzehn Tagen nach dem Tage, da einer der vertragschliessenden Teile eine Streitigkeit der Vergleichskommission unterbreitet hat, kann jede der Parteien für die Behandlung dieser Streitigkeit das von ihr ernannte ständige Mitglied durch eine auf diesem Gebiete besonders sachkundige Persönlichkeit ersetzen.
Die Partei, die von diesem Rechte Gebrauch machen will, wird unverzüglich die andere Partei davon verständigen; diese ist befugt, innerhalb des Zeitraumes von vierzehn Tagen nach Empfang der Mitteilung von dem gleichen Rechte Gebrauch zu machen.
Jede Partei behält sich indessen das Recht vor, unverzüglich einen Stellvertreter zu ernennen zur zeitweiligen Ersetzung des von ihr bezeichneten ständigen Mitgliedes, das wegen Krankheit oder aus irgendwelchem anderen Grunde vorübergehend an der Teilnahme an den Kommissionsarbeiten verhindert sein sollte.
Art. 7
Der ständigen Vergleichskommission liegt ob, die Schlichtung der Streitigkeit zu erleichtern, indem sie in unparteiischer und gewissenhafter Prüfung den Sachverhalt aufhellt und Vorschläge für die Beilegung der Streitigkeit macht gemäss den Vorschriften des Artikels 12 des gegenwärtigen Vertrages.
Die Anrufung der Kommission erfolgt durch ein dahinzielendes Begehren, das von einem der vertragschliessenden Teile an deren Präsidenten gerichtet wird. Dieses Begehren wird von der Partei, welche die Eröffnung des Vergleichsverfahrens verlangt, gleichzeitig der Gegenpartei notifiziert.
Art. 8
Unter Vorbehalt anderweitiger Vereinbarung tritt die Kommission an dem von ihrem Präsidenten bezeichneten Orte zusammen.
Art. 9
Das Verfahren vor der Vergleichskommission ist kontradiktorisch.
Die Kommission setzt selbst das Verfahren fest, wobei sie, falls nicht einstimmig ein anderweitiger Beschluss gefasst wird, die Bestimmungen in Titel III des Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907⁵ zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle berücksichtigt.
Die Verhandlungen der Kommission sind geheim, es sei denn, dass diese im Einverständnisse mit den Parteien anders beschliesst.
⁵ SR 0.193.212
Art. 10
Unter Vorbehalt einer anderweitigen Bestimmung des gegenwärtigen Vertrages fasst die Vergleichskommission ihre Beschlüsse mit Stimmenmehrheit. Jedes Mitglied verfügt über eine Stimme. Wenn nicht alle Mitglieder anwesend sind, entscheidet die Stimme des Präsidenten im Falle von Stimmengleichheit. Nur wenn alle Mitglieder anwesend sind, kann die Kommission Beschlüsse fassen, welche die Streitigkeit als solche betreffen.
Art. 11
Die vertragschliessenden Parteien lassen der Vergleichskommission alle nützlichen Auskünfte zukommen und fördern in jeder Hinsicht und in möglichst weitgehendem Masse die Erfüllung ihrer Aufgabe.
Art. 12
Die Vergleichskommission erstattet ihren Bericht binnen sechs Monaten, nachdem sie in einer Streitigkeit angerufen worden ist, es sei denn, dass die vertragschliessenden Teile diese Frist im gemeinsamen Einverständnisse verlängern.
Der Bericht enthält einen Vorschlag zur Beilegung der Streitigkeit, sofern die Verhältnisse es gestatten.
Die Ansicht der in der Minderheit gebliebenen Mitglieder wird in dem Bericht angeführt.
Jeder Partei wird eine vom Präsidenten unterzeichnete Ausfertigung des Berichtes vorgelegt.
Der Kommissionsbericht hat weder in bezug auf den Tatbestand noch hinsichtlich der rechtlichen Erwägungen die Bedeutung eines Schiedsspruches.
Art. 13
Binnen einer angemessenen Frist, die jedoch drei Monate nicht überschreiten soll, teilen die Parteien sich gegenseitig sowie dem Präsidenten der Vergleichskommission mit, ob sie die Schlussfolgerungen des Berichtes und die darin enthaltenen Vorschläge annehmen.
Die Parteien haben darüber im gemeinsamen Einverständnisse zu entscheiden, ob der Kommissionsbericht und das Verhandlungsprotokoll vor Ablauf der Frist, innerhalb der sie sich zu den in dem Berichte formulierten Vorschlägen auszusprechen haben, veröffentlicht werden dürfen.
Art. 14
Während der tatsächlichen Dauer des Verfahrens erhalten die Mitglieder der Vergleichskommission eine Entschädigung, deren Höhe von den vertragschliessenden Teilen festzusetzen ist.
Jede Partei kommt für ihre eigenen Kosten auf. Die Kosten für die Kommission werden von den Parteien zu gleichen Teilen getragen.
Art. 15
Nimmt einer der vertragschliessenden Teile die Vorschläge der Vergleichskommission nicht an oder äussert er sich nicht innerhalb der im Berichte der Kommission festgesetzten Frist dazu, so kann jeder von ihnen verlangen, dass die Streitigkeit dem Ständigen Internationalen Gerichtshof⁶ unterbreitet werde gemäss der Verpflichtung, die sie durch Annahme der fakultativen Bestimmung des Artikels 36 des Statuts des Gerichtshofes⁷ übernommen haben. Die vertragschliessenden Teile bleiben bis zum Ablaufe des gegenwärtigen Vertrages durch diese Verpflichtung gebunden, selbst falls diese in der Zwischenzeit für einen oder für beide Teile ein Ende nehmen sollte.
Die vertragschliessenden Teile kommen überdies überein, dass, falls die Streitigkeit nicht unter eine der vier in Artikel 36 Absatz 2 des Statuts des Gerichtshofes⁸ aufgezählten Kategorien von Streitigkeiten juristischer Art fällt, jeder von ihnen trotzdem verlangen kann, dass die Streitigkeit vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof⁹ gebracht wird, der sie ex aequo et bono entscheiden wird, insofern keine einschlägige Rechtsregel bestehen sollte.
⁶ Heute: der Internationale Gerichtshof (Art. 37 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes – SR 0.193.501 )
⁷ [ AS 37 768 ]. Diesem Artikel entspricht heute Art. 36 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes vom 26. Juni 1945 ( SR 0.193.501 ).
⁸ Diesem Artikel entspricht heute Art. 36 Ziff. 2 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes vom 26. Juni 1945 ( SR 0.193.501 ).
⁹ Heute: der Internationale Gerichtshof (Art. 37 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes – SR 0.193.501 )
Art. 16
Die vertragschliessenden Teile setzen in jedem Einzelfall eine besondere Schiedsordnung fest, worin der Streitgegenstand, die etwaigen dem Ständigen Internationalen Gerichtshofe¹⁰ zu übertragenden besondern Befugnisse sowie alle sonstigen zwischen den Parteien vereinbarten Einzelheiten genau bestimmt werden.
Die Schiedsordnung wird durch Notenaustausch zwischen den Regierungen der vertragschliessenden Teile festgesetzt.
Zu deren Auslegung ist in allen Stücken der Gerichtshof zuständig.
Kommt die Schiedsordnung nicht innerhalb von drei Monaten zustande, nachdem einer Partei ein Antrag auf Einleitung eines Gerichtsverfahrens unterbreitet worden ist, so kann jede Partei auf dem Wege eines einfachen Begehrens den Gerichtshof anrufen.
¹⁰ Siehe Fussn. 1 zu Art. 15.
Art. 17
Stellt der Ständige Internationale Gerichtshof¹¹ fest, dass eine von einem Gericht oder irgendeiner andern Behörde einer vertragschliessenden Partei getroffene Entscheidung ganz oder teilweise mit dem Völkerrecht in Widerspruch steht, können aber nach dem Verfassungsrecht dieser Partei die Folgen der Entscheidung durch Verwaltungsmassnahmen nicht oder nicht vollständig beseitigt werden, so ist der verletzten Partei auf andere Weise eine angemessene Genugtuung zuzuerkennen.
¹¹ Siehe Fussn. 1 zu Art. 15.
Art. 18
Der vom Ständigen Internationalen Gerichtshofe¹² gefällte Spruch ist von den Parteien nach Treu und Glauben zu erfüllen.
Über Schwierigkeiten, zu denen seine Auslegung Anlass geben könnte, entscheidet der Gerichtshof, den jede Partei zu diesem Zwecke auf dem Wege eines einfachen Begehrens anrufen kann.
¹² Siehe Fussn. 1 zu Art. 15.
Art. 19
Während der Dauer des Vergleichs- oder Gerichtsverfahrens enthalten sich die vertragschliessenden Teile jeglicher Massnahme, die auf die Zustimmung zu den Vorschlägen der Vergleichskommission oder auf die Erfüllung des Spruches des Ständigen Internationalen Gerichtshofes¹³ nachteilig zurückwirken kann.
¹³ Siehe Fussn. 1 zu Art. 15.
Art. 20
Allfällige Streitigkeiten über die Auslegung oder Durchführung des gegenwärtigen Vertrages sind, unter Vorbehalt anderweitiger Vereinbarung, unmittelbar auf dem Wege eines einfachen Begehrens dem Ständigen Internationalen Gerichtshofe¹⁴ zu unterbreiten.
¹⁴ Siehe Fussn. 1 zu Art. 15.
Art. 21
Der gegenwärtige Vertrag soll ratifiziert werden. Die Ratifikationsurkunden sollen sobald als möglich in Bern ausgetauscht werden.
Der Vertrag tritt mit dem Austausche der Ratifikationsurkunden in Kraft. Er gilt für die Dauer von zehn Jahren, gerechnet vom Tage des Inkrafttretens an. Wird er nicht sechs Monate vor Ablauf dieser Frist gekündigt, so gilt er als für einen neuen Zeitraum von fünf Jahren verlängert, und so fort für je einen Zeitraum von fünf Jahren.
Ist im Zeitpunkte des Ablaufs des gegenwärtigen Vertrages ein Vergleichsoder Gerichtsverfahren anhängig, so nimmt dieses seinen Fortgang gemäss den Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages oder irgendeines andern Abkommens, das die vertragschliessenden Teile im gegenseitigen Einvernehmen an dessen Stelle gesetzt haben sollten.
Unterschriften
Zu Urkund dessen haben die Bevollmächtigten den gegenwärtigen Vertrag unterzeichnet.
So geschehen, in doppelter Urschrift, zu Bern, am sechzehnten November neunzehnhundertsiebenundzwanzig.
Motta | R.W. Erich |
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