Vertrag zwischen der Schweiz und Luxemburg zur Erledigung von Streitigkeiten im... (0.193.415.18)
CH - Schweizer Bundesrecht

Vertrag zwischen der Schweiz und Luxemburg zur Erledigung von Streitigkeiten im Vergleichs‑, Gerichts­ und Schiedsverfahren

Abgeschlossen am 16. September 1929 Von der Bundesversammlung genehmigt am 14. März 1930³ Ratiflikationsurkunden ausgetauscht am 15. September 1930 In Kraft getreten am 15. September 1930 ¹ BS 11 311; BBl 1929 III 366 ² Der Originaltext findet sich unter der gleichen Nummer in der französischen Ausgabe dieser Sammlung. ³ AS 46 519
Der Schweizerische Bundesrat und Ihre Königliche Hoheit die Grossherzogin von Luxemburg,
von dem Wunsche geleitet, die zwischen der Schweiz und Luxemburg bestehenden freundschaftlichen Bande noch mehr zu festigen und zum Nutzen des allgemeinen Friedens die Entwicklung der auf die zwischenstaatlichen Streitigkeiten angewandten friedlichen Verfahren zu fördern,
sind übereingekommen, zu diesem Zweck einen Vertrag abzuschliessen, und haben zu ihren Bevollmächtigten ernannt:
(Es folgen die Namen der Bevollmächtigten)
die, nachdem sie sich ihre Vollmachten mitgeteilt und sie in guter und gehöriger Form befunden haben, über folgende Bestimmungen übereingekommen sind:
Art. 1
Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich gegenseitig, alle Streitigkeiten irgendwelcher Art, die sich zwischen ihnen erheben sollten und die auf diplomatischem Wege in angemessener Frist nicht geschlichtet werden können, gemäss den in diesem Vertrage vorgesehenen Verfahren beizulegen.
Die Streitigkeiten, für deren Schlichtung durch andere zwischen den vertragschliessenden Teilen bestehende Verpflichtungen ein besonderes Verfahren vorgesehen wird, sind nach den Bestimmungen dieser Vereinbarungen zu erledigen.
Art. 2
Handelt es sich um eine Streitigkeit, deren Gegenstand gemäss der Landesgesetz­gebung einer der Parteien in die Zuständigkeit ihrer Landesgerichte fällt, so wird die Streitigkeit einem der in diesem Vertrage vorgesehenen Verfahren erst nach einem rechtskräftigen, von der zuständigen Gerichtsbehörde in angemessener Frist gefällten Urteil unterworfen.
Art. 3
Vorgängig jedem Gerichts‑ oder Schiedsverfahren wird die Streitigkeit auf Verlangen einer der Parteien zur Anbahnung eines Vergleichs einer ständigen zwischenstaatlichen Kommission, der sogenannten ständigen Vergleichskommission, unterbreitet werden.
Art. 4
Die ständige Vergleichskommission besteht aus fünf Mitgliedern, die in nachstehender Weise zu bezeichnen sind: Die vertragschliessenden Teile ernennen jeder für sich einen Kommissar aus der Mitte ihrer eigenen Staatsangehörigen und bezeichnen die drei übrigen Kommissare im gemeinsamen Einverständnis unter den Staatsangehörigen dritter Staaten; diese drei Kommissare müssen verschiedenen Staaten angehören, und aus ihrer Mitte wählen die vertragschliessenden Teile den Vorsitzenden der Kommission.
Die Kommissare werden für drei Jahre ernannt. Wenn beim Ablaufe des Auftrags eines Kommissars dessen Ersetzung nicht vorgenommen wird, so gilt sein Auftrag für einen weiteren Zeitabschnitt von drei Jahren als erneuert. Die Kommissare bleiben bis zu ihrer Ersetzung und jedenfalls bis zum Abschluss ihrer zur Zeit des Ablaufs ihres Auftrags schwebenden Arbeiten im Amte.
Sitze, die durch Ableben, Rücktritt oder sonstige Behinderung frei werden, sind in kürzester Frist nach dem für die Ernennung festgesetzten Verfahren wieder zu besetzen.
Art. 5
Die Vergleichskommission ist binnen sechs Monaten nach dem Inkrafttreten dieses Vertrages zu bilden.
Hat die Ernennung der gemeinsam zu bezeichnenden Kommissare in dieser Frist oder, im Fall einer Ersatzwahl, innerhalb dreier Monate nach dem Freiwerden des Sitzes nicht stattgefunden, so soll in Ermangelung einer anderweitigen Verständigung der Präsident des Ständigen Internationalen Gerichtshofes⁴ gebeten werden, die erforderlichen Ernennungen vorzunehmen.
⁴ Der Ständige Internationale Gerichtshof wurde aufgelöst durch Beschluss der Völkerbunds­versammlung vom 18. April 1946 ( BBl 1946 II 227 ) und ersetzt durch den Internationalen Gerichtshof ( SR 0.193.50 ).
Art. 6
Die Anrufung der Vergleichskommission erfolgt im Wege eines Begehrens, das von den beiden Parteien im gemeinsamen Einverständnis oder, beim Fehlen eines solchen, von der einen oder andern Partei an den Kommissionsvorsitzenden gerichtet wird.
Das Begehren enthält nach einer kurzen Darstellung des Streitgegenstandes die Einladung an die Kommission, alle Massnahmen zu ergreifen, die zu einem Vergleiche zu führen geeignet sind.
Geht das Begehren nur von einer Partei aus, so hat diese es unverzüglich der Gegenpartei zur Kenntnis zu bringen.
Art. 7
Innerhalb einer Frist von vierzehn Tagen vom Zeitpunkt an, wo die Vergleichskommission in einem Streitfall angerufen worden ist, kann jede Partei für die Behandlung dieser Streitigkeit ihren Kommissar durch eine Persönlichkeit ersetzen, die in der Angelegenheit besondere Sachkunde besitzt.
Die Partei, die von diesem Rechte Gebrauch macht, teilt dies unverzüglich der andern Partei mit; dieser steht es alsdann frei, innerhalb einer Frist von vierzehn Tagen vom Zeitpunkt an, wo ihr die Mitteilung zugegangen ist, ein gleiches zu tun.
Art. 8
Der Vergleichskommission liegt ob, die streitigen Fragen aufzuhellen, zu diesem Zwecke durch Untersuchung oder auf andere Weise alle nützlichen Auskünfte zu sammeln und sich zu bemühen, einen Vergleich zwischen den Parteien herbeizuführen.
Die Kommission hat ihren Bericht binnen sechs Monaten nach dem Tage zu erstatten, wo sie in einem Streitfall angerufen worden ist, es sei denn, dass die vertragschliessenden Teile diese Frist im gemeinsamen Einverständnis verlängern.
Jeder Partei wird eine Ausfertigung des Berichtes ausgehändigt.
Die Kommission hat die Frist festzusetzen, innerhalb deren sich die Parteien zu ihren Vorschlägen zu äussern haben. Diese Frist darf indessen drei Monate nicht überschreiten.
Art. 9
Unter Vorbehalt entgegenstehender besonderer Vereinbarung setzt die Vergleichskommission selbst ihr Verfahren fest, das in allen Fällen kontradiktorisch sein muss. Für die Untersuchungen hat sich die Kommission an die Bestimmungen des dritten Titels des Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907⁵ zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle zu halten, es sei denn, dass sie hierüber einstimmig anders beschliesse.
⁵ SR 0.193.212
Art. 10
Die Kommission tritt unter Vorbehalt entgegenstehender Vereinbarung zwischen den Parteien an dem von ihrem Vorsitzenden bezeichneten Orte zusammen.
Art. 11
Die Arbeiten der Kommission sind nur dann öffentlich, wenn die Kommission mit Zustimmung der Parteien dies beschliesst.
Art. 12
Die Parteien werden bei der Kommission durch Agenten vertreten, die als Mittelspersonen zwischen ihnen und der Kommission zu dienen haben; sie können sich ausserdem der Mitarbeit von Beiräten und Sachverständigen bedienen, die sie zu diesem Zweck ernennen, und die Vernehmung aller Personen verlangen, deren Zeugnis ihnen nützlich erscheint.
Die Kommission ist ihrerseits befugt, von den Agenten, Beiräten und Sachverständigen beider Parteien sowie von allen Personen, die mit Zustimmung ihrer Regierung vorzuladen sie für zweckmässig erachtet, mündliche Auskünfte zu verlangen.
Art. 13
Unter Vorbehalt entgegenstehender Bestimmungen dieses Vertrages trifft die Kommission ihre Entscheidungen mit Stimmenmehrheit.
Art. 14
Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich, die Arbeiten der Kommission zu fördern und ihr insbesondere soweit immer möglich alle zweckdienlichen Urkunden und Auskünfte zukommen zu lassen sowie die ihnen zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden, um es der Kommission zu ermöglichen, auf ihrem Gebiet und gemäss ihrer Gesetzgebung die Zeugen und Sachverständigen vorzuladen und zu vernehmen sowie Augenscheine vorzunehmen.
Art. 15
Während der Dauer der Arbeiten der Kommission erhält jeder Kommissar eine Entschädigung, deren Höhe zwischen den vertragschliessenden Teilen zu vereinbaren ist.
Jede Partei übernimmt ihre eigenen Kosten und einen gleichen Teil der Kosten der Kommission.
Art. 16
Nimmt eine der Parteien die Vorschläge der Kommission nicht an oder äussert sie sich nicht dazu innerhalb der im Berichte der Kommission festgesetzten Frist, so wird die Streitigkeit durch eine Schiedsordnung unterbreitet: entweder dem Ständigen Internationalen Gerichtshofe⁶ gemäss den in seinem Statute vorgesehenen Bedingungen und Verfahrensvorschriften oder einem Schiedsgerichte gemäss den Bedingungen und Verfahrensvorschriften, die im Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907⁷ zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle vorgesehen sind.
Kommt eine Einigung über die Schiedsordnung binnen drei Monaten vom Tag an nicht zustande, wo eine Partei der andern ihre Absicht mitgeteilt hat, ein Verfahren der gerichtlichen oder schiedsgerichtlichen Beilegung einzuschlagen, so ist jede von ihnen befugt, die Streitigkeit im Wege des Begehrens unmittelbar vor den Gerichtshof zu bringen.
⁶ Heute: der Internationale Gerichtshof (Art. 37 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes – SR 0 . 193.501 ).
⁷ SR 0.193.212
Art. 17
Für den Fall, dass die Streitigkeit nach der Ansicht des Ständigen Internationalen Gerichtshofes⁸ oder des Schiedsgerichtes nicht rechtlicher Art wäre, kommen die Parteien überein, dass ex aequo et bono zu entscheiden sei.
⁸ Heute: der Internationale Gerichtshof (Art. 37 des Statuts des Internationalen Gerichts­hofes – SR 0.193.501 ).
Art. 18
Stellt der Ständige Internationale Gerichtshof⁹ oder das Schiedsgericht fest, dass eine von einer Gerichtsoder andern Behörde eines der vertragschliessenden Teile getroffene Entscheidung ganz oder teilweise mit dem Völkerrecht im Widerspruch steht, und können nach dem Verfassungsrechte dieser Partei die Folgen der Entscheidung durch Verwaltungsmassnahmen nicht oder nur unvollkommen beseitigt werden, so ist der verletzten Partei eine Genugtuung anderer Art zuzuerkennen.
⁹ Heute: der Internationale Gerichtshof (Art. 37 des Statuts des Internationalen Gerichts­hofes – SR 0.193.501 ).
Art. 19
Der Entscheid des Ständigen Internationalen Gerichtshofes¹⁰ oder der Schiedsspruch ist von den Parteien nach Treu und Glauben zu erfüllen.
Etwaige Anstände, zu denen die Auslegung des Entscheides oder des Schiedsspruchs Anlass geben sollte, sind vom Gerichtshofe zu beurteilen, der von einer der Parteien im Wege eines einfachen Begehrens angerufen werden kann.
¹⁰ Heute: der Internationale Gerichtshof (Art. 37 des Statuts des Internationalen Gerichts­hofes – SR 0.193.501 ).
Art. 20
Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich, solange ein gemäss den Bestimmungen dieses Vertrages eröffnetes Verfahren währt, sich jeglicher Massnahme zu enthalten, die eine nachteilige Rückwirkung, sei es auf die Ausführung des Entscheides des Ständigen Internationalen Gerichtshofes¹¹ oder des Schiedsspruchs, sei es auf die von der ständigen Vergleichskommission vorgeschlagene Regelung, haben könnte, und überhaupt keine Handlung irgendwelcher Art vorzunehmen, die geeignet wäre, die Streitigkeit zu verschärfen oder auszudehnen.
In allen Fällen und namentlich dann, wenn die zwischen den Parteien streitige Frage aus bereits vollzogenen oder unmittelbar bevorstehenden Handlungen hervorgeht, wird der Gerichtshof oder das im gemeinsamen Einverständnis gebildete Schieds­gericht so schnell wie möglich anordnen, welche vorläufigen Massnahmen zu treffen sind. Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich, sich den also bezeichneten vorläufigen Massnahmen zu unterziehen.
Ist in einem Streitfalle die Vergleichskommission angerufen worden, so kann sie den Parteien die ihr zweckdienlich scheinenden vorläufigen Massnahmen empfehlen.
¹¹ Heute: der Internationale Gerichtshof (Art. 37 des Statuts des Internationalen Gerichts­hofes – SR 0.193.501 ).
Art. 21
Dieser Vertrag bleibt zwischen den vertragschliessenden Teilen auch dann anwendbar, wenn andere Mächte an der Streitigkeit beteiligt sein sollten.
Art. 22
Der Vertrag wird gemäss Artikel 18 des Völkerbundsvertrages dem Völkerbunde¹² zur Eintragung mitgeteilt.
¹² Der Völkerbund wurde aufgelöst durch Beschluss seiner Versammlung vom 18. April 1946 ( BBl 1946 II 1233 ).
Art. 23
Dieser Vertrag soll ratifiziert werden. Die Ratifikationsurkunden sollen sobald als möglich in Bern ausgetauscht werden.
Der Vertrag tritt mit dem Austausche der Ratifikationsurkunden in Kraft und gilt für zehn Jahre, von seinem Inkrafttreten an gerechnet. Wird er nicht sechs Monate vor Ablauf dieser Frist gekündigt, so gilt er als für einen neuen Zeitraum von fünf Jahren verlängert und so fort.
Sollte im Zeitpunkte des Ablaufs dieses Vertrages ein Vergleichs‑, Gerichtsoder Schiedsgerichtsverfahren hängig sein, so wäre dieses Verfahren bis zu seinem Abschluss nach den Bestimmungen dieses Vertrages durchzuführen.

Unterschriften

Zu Urkund dessen haben die oben genannten Bevollmächtigten diesen Vertrag unterzeichnet.
Geschehen in Genf, in doppelter Urschrift, am 16. September eintausendneunhundertneunundzwanzig.

Motta

Bech

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