Verordnung über Sterbehilfe und Todesfeststellung (811.06)
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Verordnung über Sterbehilfe und Todesfeststellung

811.06
11. Juni 1997 Verordnung über Sterbehilfe und Todesfeststellung Der Regierungsrat des Kantons Bern, gestützt auf Artikel 17 des Dekrets vom 14. Februar 1989 über die Rechte und Pflichten der Patientinnen und der Patienten in öffentlichen Spitälern
811.01; BAG 01–83] , auf Antrag der Gesundheits- und Fürsorgedirektion, beschliesst:

Art. 1

Die im Anhang wiedergegebenen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften für die ärztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerst geschädigter Patienten (I) und zur Definition und Feststellung des Todes im Hinblick auf Organtransplantationen (II) werden für anwendbar erklärt.

Art. 2

Die Verordnung vom 14. November 1989 über Sterbehilfe und Todesfeststellung wird aufgehoben.

Art. 3

Diese Verordnung tritt am 1. September 1997 in Kraft. Bern, 11. Juni 1997 Zölch Nuspliger Anhang I Medizinisch-ethische Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften vom
24. Februar 1995 für die ärztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerst geschädigter Patienten
1. Grundsätze
1.1 Grundsätzlich hat der Arzt [Der Einfachheit halber gilt in diesem Text die männliche Bezeichnung für beide Geschlechter] oder zu lindern und sich um die Erhaltung menschlichen Lebens zu bemühen.
1.2 Ausnahmen von der ärztlichen Verpflichtung zur Lebenserhaltung bestehen bei Sterbenden, deren Grundleiden einen unabwendbaren Verlauf zum Tode genommen hat und bei zerebral schwerst Geschädigten. Hier lindert der Arzt die Beschwerden. Der Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen und der Abbruch früher eingeleiteter Massnahmen dieser Art sind gerechtfertigt. Dabei sind Ziffern 2 und 3 dieser Richtlinien zu beachten und der Arzt soll sein Vorgehen mit dem Pflegepersonal und mit den Angehörigen besprechen.
1.3 Der Arzt lässt Sterbenden und zerebral schwerst Geschädigten stets eine angemessene Betreuung zukommen. Er ist verpflichtet, Schmerz, Atemnot, Angst und Verwirrung entgegenzuwirken, insbesondere nach Abbruch von Massnahmen zur Lebensverlängerung. Er darf palliativ-medizinische Techniken anwenden, auch wenn sie in einzelnen Fällen mit dem Risiko einer Lebensverkürzung verbunden sein sollten.
1.4 Auch gegenüber Sterbenden und zerebral schwerst Geschädigten sind aktive Massnahmen zum Zwecke der Lebensbeendigung gesetzlich verboten.
2. Urteilsfähige Patienten
2.1 Verlangt ein urteilsfähiger Patient den Verzicht auf Behandlung oder auf lebenserhaltende Massnahmen oder den Abbruch bereits eingeleiteter Massnahmen, so ist dieser Wille zu respektieren. Dabei sorgt der Arzt dafür, dass der Patient über die damit verbundenen medizinischen Tatsachen und ihre Folgen in für ihn verständlicher Weise informiert wird.
2.2 Beihilfe zum Suizid ist kein Teil der ärztlichen Tätigkeit. Der Arzt bemüht sich, die körperlichen und seelischen Leiden, die einen Patienten zu Suizidabsichten führen können, zu lindern und zu ihrer Heilung beizutragen.
3. Urteils- oder äusserungsunfähige Patienten
3.1 Bei urteilsunfähigen, bei äusserungsunfähigen und bei bewusstlosen Patienten handelt der Arzt primär entsprechend der Diagnose und der mutmasslichen Prognose; er beurteilt die zu erwartenden Lebensumstände des Patienten nach seinem besten Wissen und in eigener Verantwortung. Er kann sich dieser nicht dadurch entziehen, dass er die Anweisungen Dritter befolgt.
3.2 Intensität und Schwere der dem Patienten zugemuteten Eingriffe und Anstrengungen sollen zum mutmasslichen Behandlungserfolg und zur Lebenserwartung des Patienten in einem medizinisch vertretbaren Verhältnis stehen.
3.3 Bei unbestimmter Prognose, die grundsätzlich voneinander abweichende Vorgehensweisen zulässt, orientiert sich der Arzt am mutmasslichen Willen des Patienten: wenn dieser Lebenszeichen äussert, die auf einen gegenwärtigen Lebenswillen schliessen lassen, sind diese entscheidend. Fehlt es an solchen Zeichen, so dienen frühere Äusserungen des Patienten, Angaben von Angehörigen und eine allenfalls vorhandene schriftliche Erklärung des Patienten selber (vgl. Ziffer 3.4 hiernach) als Orientierungshilfen. Ist in Zukunft ein Leben in zwischenmenschlicher Kommunikation zu erwarten, so ist in der Regel ein Wiedererstarken des Lebenswillens vorauszusehen; eine solche Aussicht ist für das ärztliche Vorgehen massgebend. Der Arzt soll ferner bestrebt sein, ein Vorgehen zu wählen, das von den Angehörigen des Patienten gebilligt werden kann. Bei unmündigen und entmündigten Patienten darf er unmittelbar lebenserhaltende Massnahmen gegen den Willen der gesetzlichen Vertreter weder abbrechen, noch ihre Aufnahme verweigern.
3.4 Liegt dem Arzt eine Patientenverfügung vor, die der Patient in einem früheren Zeitpunkt als Urteilsfähiger abgefasst hat, so ist diese verbindlich; unbeachtlich sind jedoch Begehren, die dem Arzt ein rechtswidriges Verhalten zumuten oder den Abbruch lebenserhaltender Massnahmen verlangen, obwohl der Zustand des Patienten nach allgemeiner Erfahrung die Wiederkehr der zwischenmenschlichen Kommunikation und das Wiedererstarken des Lebenswillens erwarten lässt.
3.5 Bei Neugeborenen mit schweren kongenitalen Fehlbildungen oder perinatalen Läsionen ist die Prognose besonders wichtig. Bei schweren Missbildungen und perinatalen Schäden des Zentralnervensystems, welche zu irreparablen Entwicklungs-Störungen führen würden und wenn ein Neugeborenes bzw. ein Säugling nur dank des fortdauernden Einsatzes aussergewöhnlicher technischer Hilfsmittel leben kann, darf nach Rücksprache mit den Eltern von der erstmaligen oder anhaltenden Anwendung solcher Hilfsmittel abgesehen werden. Anhang II Medizinisch-ethische Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften vom
13. Juni 1996 zur Definition und Feststellung des Todes im Hinblick auf Organtransplantationen
1. Kriterien des klinischen Todes Der Mensch gilt als tot, sobald einer der folgenden Zustände eingetreten ist: a irreversibler Herzstillstand, der die Blutzufuhr zum Hirn beendigt ( Herztod , b vollständiger und irreversibler Funktionsausfall des Hirns einschliesslich des Hirnstamms ( ). Die Entnahme von Organen vom toten Menschen ist erst zulässig, wenn die nachstehend beschriebenen ärztlichen Untersuchungen und Massnahmen zur Feststellung des Todes den irreversiblen Zustand bestätigt haben. Ärzte die einem Transplantationsteam angehören, dürfen bei der Feststellung des Todes nicht mitwirken und ihre den Sterbenden betreuenden Kollegen nicht unter Zeitdruck setzen oder anderweitig zu beeinflussen suchen.
2. Feststellung des Herztodes
2.1 Klinische Zeichen Der Herztod wird durch Herzstillstand mit Kreislaufversagen verursacht. Zur Feststellung des Herztodes müssen folgende acht klinische Kriterien erfüllt sein:
a Pulslosigkeit, b Atemstillstand, c tiefes Koma, d beidseits auf Licht nicht reagierende Pupillen, e Fehlen der okulozephalen Reflexe, f Fehlen der Kornealreflexe, g Fehlen zerebraler Reaktionen auf schmerzhafte Reize, h Fehlen des Husten- und Schluckreflexes.
2.2 Beobachtungszeit bis zur Diagnosestellung Die Feststellung des Herztodes im Hinblick auf Organentnahmen darf frühestens nach dreissigminütiger erfolgloser kardiopulmonaler Reanimation unter stationären klinischen Bedingungen erfolgen. Die Wiederbelebungsmassnahmen umfassen neben äusserer Herzmassage und Mund-zu-Nase-Beatmung Defibrillation, Intubation und parenterale Verarbreichung von Medikamenten. Erfolglose Reanimation bedeutet, dass diese Massnahmen nie eine Rückkehr der Herzaktion mit spontanem Kreislauf erzielen liessen und der Patient die unter «klinische Zeichen des Herztodes» aufgeführten Befunde (Ziffer II. 2.1) aufweist. Kinder unter fünf Jahren und unterkühlte Individuen fallen ausser Betracht. Bei Verdacht auf Intoxikationen sind die Wiederbelebungsmassnahmen über eine längere Zeitdauer fortzuführen, bevor die Diagnose des Herztodes gestellt werden darf.
2.3 Anforderungen an die den Herztod diagnostizierenden Ärzte Die klinische Beurteilung muss durch zwei Ärzte mit folgenden Qualifikationen oder Funktionen erfolgen: Fachärzte FMH für Anästhesie, Chirurgie, Innere Medizin, Pädiatrie oder Ärzte mit FMH-Anforderungen aequivalenter Weiterbildung sowie ärztliche Leiter einer Intensivstation.
2.4 Dokumentation Die klinischen Befunde und durchgeführten Reanimationsmassnahmen sind schriftlich festzuhalten. Dafür kann das «Protokoll zur Feststellung des Herztodes» der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften verwendet werden.
2.5 Hilfsuntersuchungen Keine einzelne Zusatzuntersuchung genügt für sich allein zur Feststellung des Herztodes.
3. Feststellung des Hirntodes
3.1 Klinische Zeichen Besteht eine primäre, klar ersichtliche Hirnschädigung, ohne dass die Herztätigkeit aufgehört hat, so müssen die folgenden sieben klinischen Kriterien zur Feststellung des Hirntodes erfüllt sein: a tiefes Koma, b beidseits weite, auf Licht nicht reagierende Pupillen, c Fehlen der okulozephalen und vestibulookulären Reflexe, d Fehlen der Kornealreflexe, e Fehlen zerebraler Reaktionen auf schmerzhafte Reize, f Fehlen des Husten- und Schluckreflexes, g Fehlen der Spontanatmung.
3.2 Beobachtungszeit bis zur Diagnosestellung Die Feststellung des Hirntodes im Hinblick auf Organentnahmen erfordert zwei klinische Beurteilungen mit folgendem minimalem Intervall:
a Eine Beobachtungszeit von sechs Stunden bei Erwachsenen und Kindern über fünf Jahren , wenn die Komaursache bekannt ist, kein Hinweis auf eine Intoxikation vorliegt und der Zustand nicht durch pathologische metabolische Parameter erklärt werden kann. Ferner darf kein klinischer Verdacht auf eine Infektion des Nervensystems, insbesondere eine Polyradikulitis cranialis, vorliegen. Ausserdem darf keine relevante Wirkung zentralnervös sedierender Medikamente, die beispielsweise für Reanimation und Transport gegeben wurden, vorhanden sein. b Eine Beobachtungszeit von 24 Stunden bei bekannt ist, kein Hinweis auf eine Intoxikation vorliegt und der Zustand nicht durch pathologische metabolische Parameter erklärt werden kann. Ferner darf kein klinischer Verdacht auf eine Infektion des Nervensystems, insbesondere eine Polyradikulitis cranialis, vorliegen. Auch hier darf keine relevante Wirkung zentralnervös sedierender Medikamente nachweisbar sein. c Eine Beobachtungszeit von 48 Stunden bei , wenn die Komaursache unbekannt ist und metabolische oder toxikologische Untersuchungen nicht ausgeführt werden können. Die unter Buchstaben b und c definierten Beobachtungszeiten dürfen zu Zwecken der Transplantationschirurgie nur abgekürzt werden, wenn das Fehlen jeder zerebralen Durchblutung durch eine zerebrale Angiographie erwiesen wurde (vgl. Ziffer II. 3.6). Bei Patienten mit Verdacht auf Polyradikulitis cranialis sind Hilfsuntersuchungen gemäss Ziffern II 3.5 und II. 3.6 zur Feststellung des Hirntodes erforderlich. Wie unter Buchstabe a darf auch hier eine minimale Wartefrist von sechs Stunden nie unterschritten werden.
3.3 Anforderung an die den Hirntod diagnostizierenden Ärzte Die klinische Beurteilung muss durch zwei Ärzte mit folgenden Qualifikationen oder Funktionen erfolgen: a Fachärzte FMH für Neurologie oder Neurochirurgie oder Ärzte mit FMH-Anforderungen aequivalenter Weiterbildung, b Fachärzte FMH für Anästhesie, Innere Medizin, Chirurgie, Pädiatrie oder ärztliche Leiter einer Intensivstation. Die erste klinische Beurteilung zur Feststellung des Hirntodes darf durch den betreuenden Arzt erfolgen, wenn er die obigen Voraussetzungen erfüllt. Die zweite Beurteilung nach Ablauf der Beobachtungszeit soll durch einen unabhängigen Begutachter erfolgen. Als Empfehlung gilt, dass einer der beiden Ärzte Facharzt für Neurologie oder Neurochirurgie sein soll.
3.4 Dokumentation Die klinischen Befunde und das Resultat des Apnoetestes sind schriftlich festzuhalten. Dafür kann das «Protokoll Hirntod» verwendet werden.
3.5 Hilfsuntersuchungen Keine einzelne Zusatzuntersuchung darf als alleiniges Kriterium für die Feststellung des Hirntodes herangezogen werden. Im besonderen gilt dies für die Elektroenzephalographie, die frühen akustisch und somatosensorisch evozierten Potentiale, die motorisch evozierten Potentiale, die kontinuierliche Hirndruckmessung und den Atropintest. Diese Hilfsuntersuchungen können jedoch, und bei Verdacht auf Polyradikulitis cranialis sollen sie, zur Gewinnung von Zusatzinformationen angewendet werden. Die transkranielle Dopplersonographie, die Magnetresonanz (MR)-Angiographie, die Angio- Computertomographie (CT) sowie die Single Photon Emissions-Computertomographie und die Positronen Emissions-Tomographie können einen zerebralen Kreislaufstillstand zeigen. Sie rechtfertigen die Abkürzung der vorgeschriebenen Wartefrist für eine Organentnahme nicht.
3.6 Zerebrale Angiographie Die zerebrale Angiographie (oder Arcographie) ist zur Feststellung des Hirntodes in folgenden Situationen erforderlich: a Bei Gesichtsschädelverletzungen, wenn keine eindeutige klinische Prüfung der Hirnstammreflexe möglich ist (im besonderen die unter Ziffer 3.1 Buchstaben b , c und d erwähnten klinischen Zeichen); b bei Verdacht auf Polyradikulitis cranialis; c bei drohendem Kreislaufzusammenbruch und Gefährdung zu entnehmender Organe kann mit einer Angiographie die Beobachtungszeit auf minimal sechs Stunden abgekürzt werden;
d zur Abkürzung der Wartefrist für Organentnahmen, wie unter Ziffer 3.2 Buchstaben b c definiert. Anhang III
11. 6. 1997 V BAG 97–51, in Kraft am 1. 9. 1997
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