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DE - Landesrecht Baden-Württemberg

Bad. Landesverordnung über die Aufhebung von Urteilen der Strafgerichte und die Beseitigung nationalsozialistischer Eingriffe in die Strafrechtspflege vom 23. Dezember 1946

Abschnitt I Aufhebung von Urteilen

§ 1 Aufhebung von Verurteilungen anti-nationalsozialistischer Straftaten

1.
Gerichtliche Verurteilungen wegen Handlungen, die in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945 ausschließlich aus politischen, rassemäßigen oder weltanschaulichen Gründen aus Gegnerschaft zum Nationalsozialismus begangen worden sind oder allein nach nationalsozialistischer Auffassung zu bestrafen waren oder gegen Rechtsvorschriften verstoßen haben, die jemanden aus den angeführten Gründen benachteiligen, sind auf Antrag der Staatsanwaltschaft, des Verurteilten oder seiner Hinterbliebenen (§ 361
Abs. 3 der Strafprozeßordnung) aufzuheben. 2.
Der Antrag kann nur binnen Jahresfrist nach Inkrafttreten dieser Landesverordnung gestellt werden; für Kriegsgefangene beginnt die Antragsfrist sechs Monate nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft.

§ 2 Aufhebungsverfahren

1.
Die Aufhebung des Urteils umfaßt alle Nebenstrafen und Nebenfolgen. Die aufhebende Entscheidung ist auf Antrag des Verurteilten oder seiner Hinterbliebenen durch Veröffentlichung in einer Tageszeitung oder in anderer Weise auf Staatskosten bekannt zu machen. Die Art der Bekanntmachung und die Frist, innerhalb deren sie erfolgen soll, sind in der Entscheidung festzusetzen.
2.
Falls hinsichtlich einer zur Bildung einer Gesamtstrafe herangezogenen Einzelstrafe die Voraussetzungen der Aufhebung auf Grund des § 1 vorliegen, ist die Gesamtstrafe aufzulösen, die Einzelstrafe aufzuheben und, falls mehr als eine weitere Einzelstrafe bestehen bleibt, eine neue Gesamtstrafe zu bilden.
3.
Die gerichtliche Entscheidung erfolgt durch Beschluß. Das Gericht kann einzelne Beweiserhebungen und mündliche Verhandlung anordnen. Zuständig ist die Strafkammer des Landgerichts, in dessen Bezirk das Verfahren stattgefunden hat. Im übrigen gilt hinsichtlich der Zuständigkeit § 31 der Rechtsanordnung über Gerichtsverfassung und Verfahren vom 9. Juli 1946 (Amtsblatt der Landesverwaltung Baden, S. 44). Die hiernach zuständige Strafkammer hat auch die nach Abs. 2 erforderlichen Entscheidungen zu treffen. Sie kann die vorläufige Aussetzung der Strafvollstreckung anordnen. Gegen den über die Aufhebung entscheidenden Beschluß findet sofortige Beschwerde statt.
4.
Ein Richter, der bei der aufzuhebenden Entscheidung mitgewirkt hat, ist im Aufhebungsverfahren kraft Gesetzes ausgeschlossen.
5.
Die gesetzlichen Kosten des Aufhebungsverfahrens trägt, soweit Aufhebung erfolgt, die Staatskasse.
6.
Eine Erstattung von Kosten und Geldstrafen sowie eine Entschädigung für einen durch Strafvollstreckung erlittenen Vermögensschaden finden auf Grund dieser Landesverordnung nicht statt.
7.
Die Aufhebung einer Verurteilung ist im Strafregister von Amts wegen zu vermerken. Über aufgehobene Strafen ist aus dem Strafregister Auskunft nur auf Antrag des Betroffenen, seiner Hinterbliebenen und der anerkannten Vereinigungen der Opfer des Nationalsozialismus zu erteilen. Dabei sind die Aufhebung der Strafe und die Beschränkung der Auskunft besonders hervorzuheben.

§ 3 Einstellung der Verfolgung anti-nationalsozialistischer Straftaten

Soweit nach § 1 Abs. 1 Verurteilungen aufzuheben wären, sind anhängige Strafverfahren einzustellen und neue Strafverfahren nicht einzuleiten.

Abschnitt II Beseitigung nationalsozialistischer Eingriffe in die Strafrechtspflege

§ 4 Nachholung der Strafverfolgung

Unbeschadet der Vorschriften des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 sind Verbrechen oder Vergehen, die in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945 aus politischen Gründen nicht bestraft worden sind, zu verfolgen, wenn Grundsätze der Gerechtigkeit, insbesondere die Gleichheit aller vor dem Gesetz, die nachträgliche Sühne verlangen. Dies gilt insbesondere für Verbrechen und Vergehen, die mit Gewalttaten und Verfolgungen aus politischen, rassischen oder religionsfeindlichen Gründen verbunden sind.

§ 5 Unbeachtlichkeit von Straffreierklärungen und Niederschlagungen

Die Verfolgung wird nicht dadurch gehindert, daß die Tat durch ein Gesetz, eine Verordnung oder eine andere Maßnahme der nationalsozialistischen Regierung für straffrei oder für rechtens erklärt worden ist, oder daß aus politischen Gründen die Einleitung eines Strafverfahrens unterblieben oder ein eingeleitetes Verfahren niedergeschlagen worden ist.

§ 6 Unbeachtlichkeit einer Strafverfolgungsverjährung

Ist die Strafverfolgung infolge der in § 5 bezeichneten Maßnahmen oder deshalb unterblieben oder verzögert worden, weil der Täter unter dem Schutz der NSDAP. oder einer ihrer Gliederungen oder angeschlossenen Verbände stand, so steht eine dadurch bis zum Inkrafttreten dieser Landesverordnung eingetretene Verjährung der Strafverfolgung nicht entgegen, wenn die Verfolgung binnen sechs Monaten nach Inkrafttreten dieser Landesverordnung aufgenommen wird.

§ 7 Nachholbarkeit des Antrags

Ist zur Verfolgung der in § 1 bezeichneten Straftaten ein Antrag oder eine Ermächtigung nach dem Strafgesetzbuch erforderlich, so können Antrag oder Ermächtigung binnen drei Monaten nach Inkrafttreten dieser Landesverordnung nachgeholt werden, wenn sie mit Rücksicht auf ein in den §§ 5 oder 6 bezeichnetes Verfolgungshindernis unterblieben sind.

§ 8 Unbeachtlichkeit der Strafvollstreckungsverjährung

1.
Auf die Verjährung der Vollstreckung von Strafen, deren Vollstreckung bei ordnungsmäßiger Behandlung in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945 hätte erfolgen müssen, findet die Vorschrift des § 6 entsprechende Anwendung.
2.
Dies gilt nicht, wenn lediglich auf Haft oder auf Geldstrafe bis zu 150 Reichsmark erkannt worden ist.

§ 9 Unbeachtlichkeit politischer Gnadenerweise

1.
Strafen, deren Vollstreckung nicht verjährt oder trotz Verjährung nach § 8 noch zulässig ist, sind ohne Rücksicht auf Strafaufschube, Strafunterbrechung, Strafaussetzung, Gnadenerweise, Straffreiheitsvorschriften oder sonstige Vergünstigungen zu vollstrecken, sofern diese Vergünstigungen ausschließlich aus politischen Gründen gewährt worden sind.
2.
§ 8 Abs. 2 findet entsprechende Anwendung.

§ 10 Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Beschuldigten

1.
Ein in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945 durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenes Verfahren kann auf Antrag der Staatsanwaltschaft zuungunsten des Beschuldigten auch dann wieder aufgenommen werden, wenn aus politischen Gründen zu Unrecht die Eröffnung des Hauptverfahrens oder die Anordnung der Hauptverhandlung abgelehnt oder der Beschuldigte außer Verfolgung gesetzt, freigesprochen, das Verfahren eingestellt oder der Beschuldigte zu einer unverhältnismäßig niedrigen Strafe verurteilt worden ist.

§ 11 Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Beschuldigten

1.
Ein in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945 durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenes Verfahren kann auf Antrag der Staatsanwaltschaft, des Verurteilten oder seiner Hinterbliebenen (§ 361
Absatz 2 der Strafprozeßordnung) zugunsten des Verurteilten auch dann wieder aufgenommen werden, wenn das Gericht infolge politischer, rassemäßiger oder weltanschaulicher Einflüsse zu Unrecht eine Strafe verhängt oder auf eine unverhältnismäßig hohe Strafe erkannt hat.
2.
Eine Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten findet nicht statt, wenn lediglich auf Haft oder Geldstrafe bis zu 150 Reichsmark erkannt worden ist.
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