Schiedsgerichts- und Vergleichsvertrag zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Deutschen Reich
Abgeschlossen am 3. Dezember 1921 Von der Bundesversammlung genehmigt am 7. April 1922¹ Ratifikationsurkunden ausgetauscht am 25. April 1922 In Kraft getreten am 26. Mai 1922 (Stand am 26. Mai 1922) ¹ AS 38 343
Die Schweizerische Eidgenossenschaft und das Deutsche Reich,
gewillt, gegenseitig ihre Unabhängigkeit und die Unversehrtheit ihres Gebietes unverbrüchlich zu achten,
gewillt, die seit Jahrhunderten zwischen dem Schweizervolk und dem deutschen Volke unverletzt erhaltenen friedlichen und freundschaftlichen Beziehungen zu festigen und zu fördern,
gewillt, dem Grundsatze richterlicher Entscheidung zwischenstaatlicher Streitigkeiten in dem Verhältnis beider Staaten weiteste Geltung zu verschaffen,
überzeugt, dass in Streitfällen, die ihrem Wesen nach sich zur Entscheidung durch Richterspruch nicht eignen, der Rat unparteiischer Vertrauensmänner in jedem Falle Gewähr für eine friedliche Beilegung der Streitigkeit bietet,
sind übereingekommen, einen allgemeinen Schiedsgerichts- und Vergleichsvertrag abzuschliessen.
Zu diesem Zwecke haben sie zu Bevollmächtigten ernannt:
(Es folgen die Namen der Bevollmächtigten)
die, nachdem sie ihre Vollmachten geprüft und in guter und gehöriger Form befunden,
haben über folgende Bestimmungen übereingekommen sind:
Art. 1
Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich, alle Streitigkeiten irgendwelcher Art, die zwischen ihnen entstehen und nicht in angemessener Frist auf diplomatischem Wege geschlichtet werden können, nach Massgabe des gegenwärtigen Vertrages entweder einem Schiedsgerichtsverfahren oder einem Vergleichsverfahren zu unterwerfen.
Streitigkeiten, für deren Schlichtung die vertragschliessenden Teile durch andere zwischen ihnen bestehende Abmachungen an ein besonderes Verfahren gebunden sind, werden nach Massgabe der Bestimmungen dieser Abmachungen behandelt.
Art. 2
Dem Schiedsgerichtsverfahren werden auf Verlangen einer Partei, unter Vorbehalt der Bestimmungen des Artikels 3² diejenigen Streitigkeiten unterworfen, die betreffen
erstens: Bestand, Auslegung und Anwendung eines zwischen den beiden Parteien geschlossenen Staatsvertrages;
zweitens: irgendeine Frage des internationalen Rechtes;
drittens: das Bestehen einer Tatsache, die, wenn sie erwiesen wird, die Verletzung einer zwischenstaatlichen Verpflichtung bedeutet;
viertens: Umfang und Art der Wiedergutmachung im Falle einer solchen Verletzung.
Bestehen zwischen den Parteien Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine Streitigkeit zu den vorstehend bezeichneten Arten gehört, so wird über diese Vorfrage im Schiedsgerichtsverfahren entschieden.
² Fassung gemäss Art. 1 des Prot. vom 29. Aug. 1928 ( AS 45 33 1 ). Dieses Protokoll wurde von der Bundesversammlung am 14. März 1929 genehmigt ( AS 45 329 ). Die Ratifikationsurkunden hiezu wurden am 12. Juni 1929 ausgetauscht. Am gleichen Tag ist das Protokoll in Kraft getreten.
Art. 3
Bei Fragen, die gemäss den Landesgesetzen der Partei, gegen die ein Begehren geltend gemacht wird, von richterlichen Behörden, mit Einschluss der Verwaltungsgerichte, zu entscheiden sind, kann diese Partei verlangen, dass die Streitigkeit dem Schiedsgerichtsverfahren erst unterworfen werde, nachdem in dem Gerichtsverfahren eine endgültige Entscheidung gefällt worden ist, und dass die Anrufung des Schiedsgerichts spätestens sechs Monate nach dieser Entscheidung erfolge. Dies gilt nicht, wenn es sich um einen Fall von Rechtsverweigerung handelt und die gesetzlich vorgesehenen Beschwerdestellen angerufen worden sind.
Entsteht zwischen den Parteien eine Meinungsverschiedenheit über die Anwendung der vorstehenden Bestimmung, so wird darüber im Schiedsgerichtsverfahren entschieden.